Die fünfte Jahreszeit

Alles steht Kopf!

Zur Fasnachtszeit werden viele sonst übliche Herrschaftsverhältnisse umgekehrt. So wie hier an der Basler Fasnacht. Foto: Noel Reynolds auf flickr

An der Fasnacht steht die Welt Kopf und je nachdem, wo man sich in der Schweiz befindet, ob in Luzern, Solothurn oder Basel, geht nichts mehr. In einem Wechselspiel zwischen kirchlicher Lehre und Brauchtum ist ein farbiger Reichtum an Ausdrucksformen entstanden, der mit keiner anderen Zeit während des Jahres zu vergleichen ist. Darum nennt man sie auch augenzwinkernd «die fünfte Jahreszeit». Die Kirche nahm die Fasnacht in den Kalender auf als Fest einer verkehrten Welt. Im Zentrum befinden sich die Laster, die im krassen Gegensatz zur tugendhaften und sittsamen Welt stehen. So liess sich anschaulich der abzulehnende Gegenentwurf des Lebens darstellen. Das Gegensatz-paar Fasnacht und Fastenzeit ist wie Babylon und Jerusalem miteinander verknüpft. Wohl gab es immer wieder päpstliche Proteste, aber auch Em-pfehlungen, wie etwa die von Papst Martin IV. aus dem Jahr 1284, wonach die Gläubigen «etliche Tage Fasnacht halten und fröhlich sein sollten». Die Fasnachtspredigt, die in einigen Kirchgemeinden zu einer Tradition geworden ist, will aus dem Gewohnten ausbrechen und wie ein Narr kann der Seelsorgende des Königs blinde Flecken zeigen. Das ist eine Kunst, denn leicht hat man den Ton verfehlt oder mischt sich ins Politische ein. Es ist ein schmaler Grat. Wie des Königs Narr, kann es einem übertragen gesprochen auch den Kopf kosten …

Nach und nach entwickelte sich ein Fasnachtsbrauchtum in den Städten und auf dem Land, wo es sich mit grossen Festessen, Zechereien, Tanz und Musik verband. Von 1450 an lassen sich feste Figuren ausmachen. Der Teufel, ein wilder Mann, Vertreter der gesellschaftlichen Randfiguren, Verachtete, Tiergestalten wie Böcke, Schweine oder Affen, die in der Lasterlehre als Verkörperung einer Sünde verstanden wurden, gehören zum Personal der Fasnacht. Bis in unsere Zeit hat sich dies in den unterschiedlichsten Schattierungen erhalten. Die «fünfte Jahreszeit» hält uns wie eine Antiwelt einen Spiegel vor – ganz im Bewusstsein, dass jegliches seine Zeit hat: «Weinen hat seine Zeit, Klagen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit, Tanzen hat seine Zeit (nach dem Buch Kohelet).» Nicht gerechnet sind all die vielen zusätzlichen Bräuche und die Fasnacht, die sich – wie etwa die Basler Fasnacht mit ihrem Morgenstreich und den Schnitzelbänken – als Kontrast von der katholischen Fasnacht fest eingebürgert hat. Die Fasnacht endet traditionell mit dem Verbrennen oder Vergraben der fasnächtlichen Symbole und mündet in den Aschermittwoch – die 40-tägige Fastenzeit beginnt. Dann hat sie ihren Zweck erfüllt: Das Aschenkreuz, das auf die Stirn gezeichnet wird, erinnert an die Vergänglichkeit oder den Kreislauf der Welt und lädt alle zur Umkehr oder einem Neuanfang ein. Kirchlich kann uns Ostern schon ein Licht erahnen lassen, dass dem Lebensweg eine Richtung zeigt.

Niklas Raggenbass