Ikone des sozialen Gewissens

Klimaerwärmung, Umweltzerstörung, Bankenkrisen und näherkommende Kriege verunsichern viele Menschen. Da tut es gut, an eine Frau zu erinnern, die während der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht den Kopf verlor, sondern einstand für ein solidarisches Miteinander. Die Amerikanerin Dorothy Day (1897–1980) gilt in ihrer Heimat als Ikone des sozialen Gewissens.
Sie setzte sich für einen genügsamen und gewaltfreien Lebensstil ein und forderte Christinnen und Christen auf, nicht nur zu singen, sondern auch gegen Unrecht zu protestieren. Den Randständigen war die prophetische Frau ein Trost, den Arrivierten, denen die es scheinbar geschafft hatten, eine Herausforderung. Kraft für ihr Lebenswerk schöpfte Dorothy aus einer innigen Gottesbeziehung (Weitere Informationen finden sich in: Bauer Monika, 2022: Dorothy Day (1897–1980), Journalistin – Sozialaktivistin – Mystikerin, Edition NZN bei TVZ).
Die bei uns wenig bekannte Sozialaktivistin und Journalistin kommt 1897 in New York auf die Welt. Wegen der väterlichen Arbeitslosigkeit lernt die Siebenjährige in Chicago Armut und unmenschliche Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie kennen, aber auch den Trost, den die katholischen Immigrantinnen und Immigranten in ihrer Religion finden. Die areligiös aufgewachsene Dorothy tritt mit 12 Jahren einer Mitgliedskirche der Anglikanischen Gemeinschaft bei, da der Vater den Katholizismus als Religion der Armen verachtet. Mit Hilfe eines Stipendiums kann Dorothy von 1914 bis 1916 die Universität in Urbana besuchen. Hier lernt sie ein radikales Gedankengut kennen, das nicht von einem kirchlichen Glauben getragen ist und sie verabschiedet sich von der Religion. Sie erkämpft sich eine Arbeitsstelle als Volontärin für die sozialistische Tageszeitung The Call in New York. Bei Diskussionen im Redaktionsteam wird ihr politisches Bewusstsein geschärft. Sie tritt den Wobblies (Industrial Workers of the World) bei, die sich trotz staatlichen Repressionen mutig für die Arbeiterschaft einsetzen. Dorothy, die sich einen Namen als aufdeckende Journalistin gemacht hat, wird mit 20 Jahren Herausgeberin des renommierten linken Magazins The Masses. Bei Hausdurchsuchungen und Gefängnisaufenthalten erfährt sie nun am eigenen Leib das brutale Vorgehen der Polizei gegenüber Radikalen. Ihre Sinnsuche vertieft sich. Nach einer unglücklichen Liebschaft, einer Abtreibung, zwei Selbstmordversuchen und einer kurzen Ehe, findet sie durch die Liebe zu Forster Batterham und der Geburt ihrer Tochter zu Gott. Leider führen Tamars Taufe 1926 und Dorothys Übertritt in die katholische Kirche 1927 zum Bruch mit Forster. Erneut durchlebt Dorothy schmerzhafte Zeiten. Sie hält sich und ihr Kind mit Artikeln über Gärten und Friedensprojekte am Leben.

Als der Börsencrash 1929 Amerika in eine riesige Depression stürzt, haben Gewerkschaften Zulauf. Dorothy versteht nicht, weshalb die Kirchen den Arbeiterkampf nicht unterstützen. Es ist die Begegnung mit Peter Maurin (1877–1949), die ihrem Leben eine neue Richtung gibt. Der hochgebildete Franzose möchte mit Hilfe der Journalistin Day sein Programm einer christlich-sozialen Weltrevolution in den USA bekannt machen. Dorothy, die zum ersten Mal einen Katholiken trifft, der die Not der Arbeiterschaft ernst nimmt und nicht mit frommen Worten beschwichtigt, muss nicht lange bearbeitet werden, um Mitherausgeberin einer Zeitung zu werden, die dem linken Flügel der katholischen Kirche eine Stimme verleiht. Die 1933 gegründete Zeitung The Catholic Worker (CW) erinnert an Jesu Solidarität und Mitleidenschaft für die Ausgegrenzten und zeigt ihn als Arbeiter, der seine Compagnons und Compañeras einlädt, sich von Gott berühren und begleiten zu lassen.
Radikale Solidarität und Bibel als Lebensgrundlage
Von der radikalen Solidarität mit den Armen findet Dorothy zu einer biblisch begründeten Lebensart. In der Bergpredigt (Matthäusevangelium 5,3–12) entdeckt sie Weisungen, die ihrem einfachen Lebensstil und ihrer pazifistischen Haltung ein Fundament geben. Und die in der Gerichtspredigt Jesu (Matthäusevangelium 25,35–36) genannten Werke der Barmherzigkeit bieten während der Weltwirtschaftskrise die Möglichkeit, mit direkten Aktionen eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu befördern. Dorothy fordert nicht Almosen, sondern Gerechtigkeit für die Leidtragenden eines gottlosen Kapitalismus und Materialismus. Sie publiziert im CW neben Artikeln zur katholischen Soziallehre auch Berichte über höllische Arbeitsbedingungen, Streiks und Arbeitslosigkeit und kritisiert als Befreiungstheologin avant la lettre die Sünden einer Kirche, die sich mit den Mächtigen verbündet. Aus ihrer Sicht sollten kirchliche Praxis und Verkündigung geprägt sein vom jesuanischen Lebenskonzept der Solidarität, des Machtverzichtes, der Geschwisterlichkeit.
Der CW zeichnet sich durch eine geerdete Spiritualität aus und wird zum Forum für ein radikales Christentum. Dorothys Glaube flüchtet nicht in Himmelsseligkeit, sondern drängt zum innerweltlichen Einsatz. Sie bekämpft die Auswüchse der industriellen Revolution und ärgert sich über Glaubensgeschwister, die sich dem American Way of Life, dem amerikanischen Lebensstil, anpassen. Lohn- und Carearbeit ist aus ihrer Sicht ein Mitwirken am göttlichen Schöpfungswerk und muss deshalb so beschaffen sein, dass sie Gott ehren und Menschen beglücken kann. Sie ruft im CW auf, keine unfair produzierten Konsumgüter zu kaufen, ermuntert zur Gründung von Gewerkschaften und zum Besitz der Produktionsmittel. Den kalifornischen Bischöfen schreibt sie in einem geharnischten Brief: «Unser amerikanischer Lebensstil hat uns korrupt gemacht, denn es ist eine Fehlrechnung, Gott und dem Mammon gleichzeitig zu dienen.»

In Dorothys Nähe entdecken Menschen, dass Religion nicht ein Eintauchen in wohlige Gefühle ist, sondern das ganze Leben umfasst, was auch Härten und Unwägbarkeiten beinhaltet. Der CW legt den Grundstein für eine radikale Bewegung, die einen innovativen Zweig des Katholizismus schafft und wegweisend wird für eine zeitgemässe Laienspiritualität. «Catholic Worker» verbinden die Liebe zu Gott mit der Liebe zum Nächsten. Sie unterstützen Streikende, organisieren billigen Wohnraum für Obdachlose, holen in Lebensmittelläden abgelaufene Artikel, kochen, beten und putzen gemeinsam. Ihre radikale – «verwurzelte» – Spiritualität gibt den Häusern der Gastfreundschaft von Anfang an eine Wärme und Farbigkeit, die aussergewöhnliche Menschen als Gäste und Gastgeber anzieht. Der Zeit weit voraus ist in der von Laien gegründeten Bewegung die Solidarität mit People of Colour und die ökumenische Offenheit. Als Netzwerkerin für den Frieden berichtet Dorothy im CW von ihren Kontakten mit Gläubigen aus verschiedenen christlichen Herkünften und bedenkt, dass insbesondere Menschen, die solidarisch mit den Armen leben, zur innigen Gemeinschaft in und mit Christus gehören. Doch wenn sie schreibt, dass auch in japanischen, vietnamesischen und russischen Gegnerinnen und Gegnern Christus gegenwärtig sei, wird sie von der Kirche kritisiert und vom FBI kontrolliert. Wird sie für ihre pazifistische Haltung kritisiert, schreibt sie, für ein christliches Leben genüge das Jesuswort: «Was ihr den Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan (Matthäusevangelium 25, 40).»
Evangelium beim Wort nehmen
Indem Day wagt, das Evangelium beim Wort zu nehmen, wird sie für viele Menschen eine Leitfigur, in deren Sprechen und Leben sich etwas vom Urchristentum durch die Zeit gerettet hat. Als sei sie ein Spiegel des Evangeliums, entfacht sie erneut die Glut des Pfingstfeuers und schafft damit der Friedens- und Gerechtigkeitsbewegung in Amerika eine Wiege. Da sie die Kirche mehr als mächtige Institution denn als geschwisterliche Gemeinschaft in der Nachfolge Jesu wahrnimmt, wartet sie nicht auf kirchliche Anweisungen. Ohne Wenn und Aber trägt sie das Evangelium als Salz und Licht in die Welt. Im Kampf für soziale Gerechtigkeit fordert sie die Laien auf, nicht auf bischöflichen Erlass oder priesterlichen Auftrag zu warten, sondern ihr Gewissen zu prüfen, ihre Freiheit zu nutzen und ihre Stimme zu erheben. Nach einer letzten Inhaftierung 1973 verbringt Dorothy ihren Lebensabend in einem Haus für obdachlose Frauen, wo sie am 29. November 1980 friedlich stirbt. Alle grossen amerikanischen Zeitungen berichten über ihren Tod und schildern ihren grossen Einfluss auf das soziale und ökonomische Denken einer ganzen Generation. Bis heute steht Dorothy Day für ein soziales Gewissen, das sich an der Not der Verstossenen, Armen und Bedürftigen misst – heute und nicht erst im Himmel!
Monika Bauer

Zur Autorin
Monika Bauer (*1953) ist Pädagogin und Theologin. Sie unterrichtete von der Spielgruppe bis zur Seniorinnenrunde auf allen Stufen und war Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Weil ihr Erkenntnisort die Grenze ist (Paul Tillich), hat sie sowohl als Geburtsvorbereiterin als auch als Sterbebegleiterin gearbeitet. Gegenwärtig ist sie in der Pfarrei in der Freiwilligenarbeit engagiert.

Monika Bauer
Dorothy Day (1897–1980)
Journalistin – Sozialaktivistin – Mystikerin
Die Amerikanerin Dorothy Day gilt manchen als eine moderne Heilige. Als Pazifistin und Anarchistin stellte sie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg den American Way of Life infrage und kam in Konflikt mit Kirche und Staat. Monika Bauer zeichnet in ihrer Biografie Dorothy Days Weg nach von der Bohemienne zur gläubigen Katholikin.
Paperback mit s/w-Fotos:
177 Seiten
ISBN 978-3-290-20233-0
Edition NZN bei TVZ