Warum läuten Glocken?

Grenzüberschreitende Botschaft in Not- und Friedenszeiten

Ob in Gedichten wie Schillers «Lied von der Glocke», im Romanen wie Viktor Hugos «Glöckner von Notre-Dame», beim Heranrücken der Feuerwehr, beim Samichlauseinzug oder beim Festgeläute an Ostern: Glocken lösen die unterschiedlichsten Gefühle aus. In der Christuskirche in Hellikon sind die Glocken mehrmals am Tag zu hören. Vor ein paar Wochen konnte eine der Glocken nicht mehr schwingen und blieb stumm. Zahlreiche Leute riefen mich an, was denn passiert sei! Die drei Glocken der christkatholischen Kirche sind im offenen Turm aufgehängt und der Witterung ausgesetzt. So kam die Zeit, das alte Holzjoch durch ein Joch aus Stahl zu ersetzen. Soll man den hohen Betrag ausgeben oder lieber nur noch mit zwei Glocken läuten? Die Kirchgemeindeversammlung hat einstimmig beschlossen: «Die Glocke lassen wir reparieren, denn Glocken gehören zu unserem Tal!»

Glockenklänge lösen Grenzen auf

In der Sondernummer zur Kirchweihe der Christuskirche vom 11. April 1948 schrieb Bischof Adolf Küry, wie wichtig gerade nach den langen unerquicklichen Kämpfen die Orte des Trostes, des Friedens und der Freude seien: Wo man auch stehen mag im Gebiet dieser einzigen Kornkammer von Vorderösterreich, immer weitet sich der Blick bis tief hinein nach Deutschland. Man hat vom Rhein den Eindruck, er sei ein verbindendes und nicht trennendes Band – unsere Glockenklänge lösen Grenzen auf, schlagen Brücken.

Letzte Glockengiesserei der Schweiz

Die Glocke wurde nach Aarau gefahren, wo sie 1948 in der Glocken- und Kunstgiesserei H. Rüetschi AG gegossen wurde. Jan Podzorski, Projektleiter der letzten Glockengiesserei der Schweiz, sagte mir, dass die grosse Hellikoner Glocke mit dem Namen «Liebe» ganze 605 Kilogramm wiegt, so hat er es im Archiv nachschlagen können. Im Querschnitt hat die Glocke die Form der «Rüetschi-Rippe». Es sei eine gotische Rippe, wie man sie schon vor einige hundert Jahre gemacht habe. Jede Giesserei stelle ihre eigene Rippe her. Wer verfolge, wie eine Glocke zu ihrer Form wird, merke bald, dass es jeweils ein speziell für diese eine Glocke gemachter Ablauf ist, bei dem wieder neue Erfahrungen gesammelt werden. Das liege auch am Material der Glocke. Sie besteht aus Bronze. Die 21 Prozent Zinn und 79 Prozent Kupfer mit ihren unterschiedlichen Schmelzpunkten, müsse man sorgfältig zusammenbringen. Jede Glocke sei ein Unikat und er könne mir keine Regel geben, wie eine Rippe allgemein gemacht werde. Wenn die Glocke einmal gegossen sei, könne man nur noch ganz wenig ändern. Die Klangfarbe der Hellikoner Glocke mit ihrem Ton Gis‘ sei noch immer «absolut in Ordnung», sagt Jan Podzorski ohne Stolz.

Der Ton macht die Glockenmusik

Es ist kaum zu glauben, dass aus dem Rohguss, wie man ihn in der Glockengiesserei sieht, am Schluss genau jener Glockenton entsteht, der «im Voraus gedacht» worden ist. Das Entstehen einer Glocke ist ein «komplexer» Prozess, sagt auch der Seniorchef der Glockengiesserei Gerhard Spielmann und dazu braucht es viel Fingerspitzengefühl, Geduld und Liebe. Für jeden Ort und jede Kirche gelten andere Massstäbe und Voraussetzungen.

Die Glocke: ein Musikinstrument wie eine Geige

Wie fast jedes Musikinstrument erzeugt die klingende Glocke nicht nur einen Ton, sondern einen aus zahlreichen Tönen zusammengesetzten Klang, erklärt Gerhard Spielmann weiter. Dieser umfasst einerseits die natürliche Obertonreihe des Grundtons, andererseits eine Reihe weiterer, «irregulärer» Teiltöne. Beherrscht wird das Klangbild jedoch von einem metallisch klingenden, physikalisch aber nicht nachweisbaren Ton, dem Schlagton. Er gibt der Glocke den Tonnamen. Die Glocke hat Ton und Klang und findet als ein Musikinstrument Eingang in die klassischen Konzerte. Das Opernhaus Zürich baut seit einige Jahren auf Glocken aus der Wundergiessereiwerkstatt in Aarau und sie können sich durchaus mit einer Stradivari messen, schmunzelt Gerhard Spielmann. So hört man in Zürich Aarauer Glocken, denn die Opernmusik ist voll von Glockenklängen.

Glocken: Ein Stück Kulturgeschichte

Stiftskirche Herrenberg, Benjamin Nagel auf flickr, CC BY-SA 2.0

Glocken sind eine faszinierende Welt, die sich trotz der technischen Errungenschaften im Grundsatz über die Jahrhunderte nie verändert hat. Die Beständigkeit von gut gegossenen Glocken Aargauer Provenienz bestätigt die Barbara-Glocke der Kathedrale Saint-Nicolas in Fribourg aus dem Jahr 1367, sagt der Berner Glockenfachmann Matthias Walter. Am oberen Glockenrand steht die Inschrift «Facta sum al Magistro Waltero Reber da arw» – gemacht bin ich von Magister Walter Reber von Aarau. Das Glockengiessen hat in Aarau eine 600 Jahre alte Geschichte mit vielen Facetten. Glocken gehören in unseren Kulturraum und sind zentraler Ausdruck europäischer Geschichte und Gesellschaft, schreibt Verena Naegele in den Aarauer Neujahrsblättern von 2009 über die traditionsreiche Aarauer Glockengiesserei.

Woher kommen Glocken? Aus China!

Die Wurzeln der Glocke liegen gut 5000 Jahre zurück und sind in China zu verorten. Anfangs nutzte man Klingsteine und später dann Frucht- und Klangschalen, aus denen sich mit der Zeit die Glocken entwickelten. In der Kulturgeschichte gelten Glocken sogar als die ältesten Musikinstrumente, die bei kultischen und religiösen Handlungen und Riten eine wichtige Rolle spielten. Klaus Hammer, Glockensachverständiger und Leiter des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg, gibt mir weiterführende Erklärungen zum «Eroberungszug der Glocken».

Im 4. oder 5. Jahrhundert tauchten die Glocken dann allmählich im Christentum auf. In den Gottesdiensten wurden sie vermutlich von den Bischöfen Severus von Neapel, Paulinus von Nola und dem Kirchenvater Hieronymus eingeführt. Die Glocke diente dabei nicht nur als akustisches Symbol für die Verkündigung der christlichen Botschaft, sondern sie hatte auch eine praktische Bedeutung, sagt der Campanologe. So war es in Mönchsgemeinschaften des frühen Christentums üblich, dass die Glocke zu den sieben Gebetszeiten läutete und somit den Tag strukturierte. «Wenn Du die Gebetsglocke hörst, lass alles stehen und liegen», schreibt der Mönchsvater Benedikt in seiner Regel. Geläutet wurden sie für den Gottesdienst, zum Gebet, als Todesanzeige, für die Taufe oder zur Anzeige weltlicher Anlässe wie Stundenschläge, Friedensschlüsse oder Feuersbrunst. Ihre Verehrung und Wertschätzung wird nicht zuletzt durch verschiedene Symbole bezeugt: Viele Glocken haben einen Namen und meist sind sie auch mit einem sinngebenden biblischen Spruch und mit Wappen oder anderen Insignien gekennzeichnet.

Akustischer Rahmen: «Die Sprache der Glocken»

An diese mittelalterliche Läutetradition knüpfen bis heute die täglichen Läutezeichen morgens, mittags und abends mit einer Glocke an. Auch die Reformation hat an diesen Gebetszeiten grundsätzlich nichts geändert. Allerdings sind den wenigsten Menschen die liturgischen Gründe für diese Läutezeichen klar: Die Erinnerung an die Auferstehung Jesu am Morgen, das Gedenken an die Kreuzespein Jesu verbunden mit der Bitte um den inneren und äusseren Frieden zur Mittagszeit und die Erinnerung an die Menschwerdung und Grablegung Jesu sowie die Mahnung an den eigenen Tod am Abend. In der Regel wird für diese Läutezeichen im evangelischen Bereich die Bet und im katholischen Bereich die Angelus- oder Marienglocke verwendet. Man nennt dieses Läuten auch kurz «Angelusläuten» nach dem Gebet «Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft».

In einigen Gemeinden, wie etwa in Hellikon, läutet es ausserdem um 11 Uhr in Erinnerung an die Kreuzigung Jesu und um 15 Uhr zur Sterbestunde Jesu. Zusätzlich zu den beschriebenen Erinnerungs- und Mahnfunktionen besitzen Glocken auch Botschaftsfunktionen, die die Menschen nicht nur aufhorchen lassen, sondern ihnen gleichzeitig konkrete Ereignisse anzeigen, sofern man die «Sprache der Glocken», also den musikalischen Gehalt des jeweiligen Geläuts, versteht. Es sind vor allem diese seit Jahrhunderten bestehenden Läutezeichen, die eine eigene Sprache bilden und entsprechend zum visuellen Symbol des Kreuzes den akustischen Rahmen des christlichen Abendlandes bilden, eines Kulturraums, den der Kulturhistoriker Friedrich Heer als «Glockeneuropa» bezeichnet hat.

Das Lied von der Glocke

Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muss die Glocke werden!
Frisch, Gesellen, seid zur Hand!
Von der Stirne heiss
Rinnen muss der Schweiss,
Soll das Werk den Meister loben;
Doch der Segen kommt von oben.

Friedrich von Schiller
(1759-1805)

Foto: Albrecht Fietz auf Pixabay

Das Glockenmuseum in der Stiftskirche Herrenberg

Wer der Geschichte und der Bedeutung der Glocken nachgehen möchte, kommt im Glockenmuseum der Stiftskirche Herrenberg reichlich auf seine Kosten. Es stellt eine besondere Art eines Glockenmuseums dar, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Glockenmuseen hat Herrenberg seinen Ursprung nicht einer nahegelegenen Glockengiesserei zu verdanken, sondern ist eine eigene Neugründung in einer 700 Jahre alten Kirche. Hoch über den Dächern der Stadt Herrenberg unter der «welschen Haube», der barocken «Zwiebel», im mächtigen Turm der Stiftskirche befindet sich das Glockenmuseum. Der Westturm der Kirche, der 1749 mit einer barocken Haube fertiggestellt wurde, enthält eine geräumige Glockenstube, die aus zwei Stockwerken besteht. Eine Stube dieser Grösse ist anderswo selten zu finden. 1990 wurde hier ein kleines Glockenmuseum für die Öffentlichkeit eröffnet.

Hauptmerkmale des Glockenmuseums

Die besondere Museumskonzeption besteht darin, dass die Besucherin und der Besucher die Glocken nicht nur anschauen, sondern sie auch in Aktion sehen können, dass sie oder er die Glocken nicht nur angeschlagen hört, sondern sie in voller Klangentfaltung wahrnimmt. Dieses ganzheitliche Erlebnis, verbunden mit der Vermittlung der Glockentradition, die die Menschen des christlichen Abendlandes seit weit über 1000 Jahren begleitet, ist sonst in keinem Glockenmuseum möglich. Die Besucherin und der Besucher werden ausserdem über die verschiedenen historischen Glockentypen, ihre unterschiedlichen Profile, ihre akustisch-spektralen Eigenschaften sowie ihre Verwendungen informiert.

Umfangreichstes Ensemble klingender Glocken in Europa

2012 wurde ein 50-stimmiges Carillon – Glockenspiel – gegossen mit den besonderen Anforderungen, dass die Teiltöne schwebungsfrei sind und eine Oktavdehnung aufweisen sollten, die an die auditive Verarbeitung des menschlichen Gehörs angepasst ist. Mit diesem Carillon und den Museumsglocken ist das Museum nicht nur Eigentümerin des umfangreichsten Ensembles klingender Glocken in Deutschland, sondern in ganz Europa unerreicht hinsichtlich seines geografischen, historischen und künstlerischen Profils sowie seiner musikalischen Vielfalt.

Ich kann allen, die die «Sprache der Glocken» besser verstehen lernen wollen, den Besuch des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg sehr empfehlen!

Niklas Raggenbass


Glockenmuseum Stiftskirche
Herrenberg

Am Joachimsberg 17
D-71083 Herrenberg
Telefon: +49 (0)7032 9569623
E-Mail: info(at)glockenmuseum-stiftskirche-herrenberg.de
Website: https://www.glockenmuseum-stiftskirche-herrenberg.de/

Mit der Bahn
Herrenberg liegt an der Bahnlinie Stuttgart-Singen-Zürich («Gäubahn»).
S-Bahn (Linie S 1) Herrenberg – Stuttgart (jede halbe Stunde).
Die Ammertalbahn verbindet Herrenberg und Tübingen (jede halbe Stunde). Vom Bahnhof nur wenige Minuten Fußweg in die Altstadt, zum Marktplatz und zur Stiftskirche.
Mit dem Auto
Parkmöglichkeit: Stadthallen-Parkplatz. Von dort durch die Fussgängerzone zum Marktplatz. Von hier steigen Sie über steile Treppen zur Stiftskirche.