Predigt am 23. April 2023 in der Stadtkirche Olten

anlässlich der 150. Wiederkehr der Wahl von Eduard Herzog zum Pfarrer

© Prof. Dr. Angela Berlis, Bern

Lesungen: 1 Petr 1, 16-23 ; Joh 21, 1-14

Liebe Gottesdienstgemeinde,

ich beginne diese Predigt mit einem Zitat:

«Verehrter Herr und Bruder! Sympathischen Gruss und Glückwunsch von Ihrem Kollegen am Niederrhein.» Diese Worte schrieb Eduard Herzog, damals Pfarrer von Krefeld an Pfr. Paulin Gschwind in Starrkirch, nach dem sog. «Oltner Tag» am 1.12.1872. Und er fuhr fort: «Mit Muhe und Entschlossenheit vorwärts; die Zukunft gehört uns. Die gerechte Sache muss und wird siegen.»[1]

Ich rufe kurz in Erinnerung: Paulin Gschwind war im Oktober 1872 vom Bischof von Basel suspendiert und exkommuniziert worden wegen seines öffentlichen Widerstands gegen die Papstdogmen des Ersten Vatikanums. Mit Gschwinds Exkommunikation, deren Kunde sich wie ein Lauffeuer verbreitete, hatte die christkatholische Bewegung Fahrt aufgenommen. Davor hatten die Dogmen über die Unfehlbarkeit und den Rechtsprimat des Papstes hier in der Schweiz relativ wenig Staub aufgewirbelt. Es war im Vergleich zu Deutschland viel viel ruhiger geblieben. Lediglich Johann Baptist Egli war in Luzern bereits 1871 exkommuniziert worden, musste Luzern verlassen und war dann mit Hilfe vor allem von Augustin Keller am 8. Dezember 1872 durch die Olsberger Gemeinde zum Pfarrer von Olsberg gewählt worden. 

Warum blieb es – gerade im Vergleich zu Deutschland, wo die Wogen hochgingen – zunächst so merkwürdig ruhig und still in der Schweiz? Einerseits lag das daran, dass viele Schweizer Katholiken gegen diese Papstdogmen waren; wo man sich einig ist, kommt es nicht zu Auseinandersetzungen. Zum anderen war ja bekannt, dass Eduard Herzog in Luzern (und andere mit ihm) nicht für diese neuen Dogmen war. Doch er wurde von einem mächtigen Politiker (Philipp Anton von Segesser) geschützt, der übrigens selbst auch gegen die Dogmen war, jedoch aus politischen Gründen nicht offen dafür eintreten wollte (er sah in der christkatholischen Bewegung ein Werkzeug seiner politischen Gegner, der Radikalen[2]).

Doch fühlte sich Eduard Herzog nicht wohl, er war nicht glücklich mit dieser Situation. Er nahm im September 1872 am Kongress der Altkatholiken in Köln teil und dort reifte bei ihm – nach intensiven Gesprächen mit u. a. Joseph Hubert Reinkens, seinem neuen Freund, mit Professor Franz Heinrich Reusch, seinem alten Lehrer, und einigen Krefelder Laien – der Entschluss, diese Situation zu beenden. Noch von Köln aus, am 23. September 1872, schreibt er dem Bischof von Basel, Eugène Lachat, einen «offenen Brief», seinen Abschiedsbrief.  

Darin dankt er dem Bischof zunächst für dessen «Milde, infolge deren Sie mich bisher mein Amt als Priester und Lehrer der katholischen Theologie ungehindert ausüben liessen, trotzdem Ihnen meine Stellung zu den erwähnten Dekreten schon längst auch in offizieller Weise kund geworden war.»[3] Das habe ihm Zeit zu überlegen gegeben. Dann erklärt Herzog, weshalb er aufgrund des Zeugnisses der Hl. Schrift und der Tradition die Lehre der Unfehlbarkeit als unhaltbar ansehe und er sie trotz redlichen Bemühens, sich das Gegenteil beweisen zu lassen, nicht annehmen könne. Herzog schrieb: «Jeder ehrliche Mann muss aber einsehen, dass man solche Kunstgriffe [sc. der Verharmlosung, der Beschwichtigung, des Herunterspielens der Problematik dieser Dogmen] nur deshalb nötig hat, weil man für eine Sache kämpft, die nicht auf Wahrheit beruht.»[4]

In dieser Situation hätte Herzog eigentlich nichts weiter zu unternehmen brauchen. Er hätte, so schreibt er, alles gehabt, was er «sich zu einem glücklichen Leben vorgestellt» hätte. Ausserdem sei ihm wiederholt versichert worden, man würde ihn in seiner Stellung nicht antasten. «In diese Lage habe ich mich gefügt und lange geschwiegen.» und dann: «Allein ich fühlte immer mehr, wie unwürdig es eines Mannes sei, dessen Beruf es ist, in seinem Kreise die christliche Heilslehre zu verkünden, aus Liebe zu einem bequemen, angenehmen Leben hochwichtige Wahrheiten äusserlich – wenn auch nur äusserlich – zu verleugnen.» Dies sei ihm umso schwerer gefallen, als er all die Männer gesehen habe, die früher als Zierden ihrer Kirche galten, nun aber, «weil sie mit ähnlicher Offenheit ihre christliche Ueberzeugung auch gegenüber der Gewalt nicht verleugnen wollten», geächtet, aus dem Amt gesetzt, exkommuniziert worden seien. (59) Herzog nennt zwar keine Namen, aber er meint Döllinger, Reinkens, Reusch, Thürlings und andere mehr. Er wolle an der Seite dieser Männer stehen und «offen und ohne alle Rücksichten wieder einstehen zu dürfen für ein Christentum, das den Menschen frei macht und ihn nicht geistig knechtet, das ihn beseligt und ihm nicht zur unerträglichen Last wird, das die Wissenschaft erträgt und nicht fürchten und darum binden muss», und das sich den Verdammungen des Papstes gegenüber allen Zeichen der Zeit nicht anschliessen muss. «Der Gedanke, diesem befreienden, beseligenden, versöhnenden Christentum dienen zu dürfen, erquickt mich und macht es mir leicht, meine Heimat, meine Angehörigen, meine Freunde und eine Stellung zu verlassen, die ich liebgewonnen hatte.» (60)

Es ist der unglaublich beeindruckende Brief eines jungen und schon sehr reifen Menschen, der seinen Weg findet und ihn dann konsequent geht.

Am gleichen Tag, an dem Herzog den Brief an seinen Bischof schreibt, reicht er von Köln aus auch beim Erziehungsrat des Kantons Luzern seine Demission (als Professor und als Religionslehrer) ein. Und dann geht Herzog nach Krefeld, wo Laien gerade eine altkatholische Gemeinde begründet und ihn am 27. September 1872 bereits gewählt haben. Sie sehen, hier hatte kein Grashalm Zeit, um über die Angelegenheit Gras wachsen zu lassen.

Bevor Herzog die Schweiz verlässt, hält er Rücksprache mit Walther Munzinger, der mit ihm eins ist, dass es in der Schweiz im Oktober 1872 keine freie Stelle für Herzog gibt. Doch, wie der eingangs zitierte Brief von Herzog an Gschwind nur wenige Wochen später zeigt, sollte sich die Lage in der Schweiz rasant ändern.

Der Briefverkehr in Richtung Krefeld verstärkte sich. Herzog wurde ab Januar gerufen, angefragt, wieder in seine Heimat zurückzukehren. Am Ende blieb Herzog nur etwa fünf Monate in Krefeld. Am 9. März wählten ihn die Oltener (mit 223 Stimmen) zu ihrem Pfarrer und schon am 6. April 1873 (Palmsonntag) hielt Herzog den ersten Gottesdienst hier in der Oltener Stadtkirche. Eine Woche später, am 13. April wurde er von Landammann Vigier als Vertreter der Solothurner Regierung  als Pfarrer installiert. Walther Munzinger konnte daran nur aus der Ferne teilnehmen. Er schrieb, Glückwünsche zu dieser Feier, «durch welche meine Vaterstadt [Olten], getreu ihren Traditionen mit einer Richtung der Unwahrheit und Gedankenlosigkeit bricht.»[5] Er starb am 22. April 1873 (also gestern auf den Tag genau vor 150 Jahren) an einer schweren Lungenentzündung.

Auch hier in Olten blieb Herzog nicht lange. 1874 wurde er an die neu errichtete Christkatholische Theologische Fakultät in Bern berufen, 1876 zum Bischof gewählt, Ämter, die er bis zu seinem Tod im Jahr 1924 ausüben würde.

Herzog ist ein beeindruckender Mensch, seine Hirtenbriefe, seine Predigten, sein Auftreten in der Öffentlichkeit legen Zeugnis ab von seiner tiefen Spiritualität bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit für das, was in der Gesellschaft ‘dran’ war. Als Seelsorger und als Bischof war er den Menschen und ihren Anliegen nahe. Er forderte die Christkatholikinnen und Christkatholiken aber auch heraus, nicht nur zu ihren Überzeugungen als liberale Katholikinnen und Katholiken, sondern auch zu ihrem Glauben zu stehen und für ihn einzustehen.

Herzogs Spiritualität gründete in seiner umfassenden Kenntnis der Bibel, die er in der Originalsprache las. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie er die Stelle ausgelegt hätte, die wir heute aus dem ersten Petrusbrief gelesen haben. (Möglicherweise gibt es eine Auslegung von ihm, seine Predigten sind ja erhalten. Aber ich halte heute keinen historischen Vortrag, sondern eine Predigt.) In meiner Predigt heute versuche ich zu verbinden: das, was wir heute feiern – 150 Jahre Eduard Herzog als erster Pfarrer der christkatholischen Kirchgemeinde gewählt und als Pfarrer dieser Gemeinde gewirkt – und das, was wir heute aus der Bibel als Gotteswort gehört haben. – Heute geht es darum, wie sich beides zueinander verhält oder wo es vielleicht Verbindendes gibt.

Was haben wir gehört? Im ersten Petrusbrief fordert der Briefschreiber, nennen wir ihn Petrus, die Gemeinde auf, ihr Denken, ihre Mentalität zu verändern. Er bittet sie, sich zu verändern, weil alles sich verändert hat mit dem Kommen von Jesus Christus, dem Messias. Alles hat sich verändert: «Ihr seid Neugeborene», sagt Petrus der Gemeinde. Es gibt ein klares Vorher und Nachher in diesem Brief. Früher war eure Lebensorientierung «inhaltslos» (in anderen Übersetzungen heisst es «eure Lebensweise war sinnlos» – sie orientierte sich an Äusserlichkeiten). Früher war Euer Leben völlig falsch orientiert, denn es hatte keinen Inhalt, es war eigentlich gar keine «Lebensorientierung» bzw. das was ihr vielleicht dafür gehalten habt, hat Euch nur ins Leere geführt.

«Durch Jesus Christus seid Ihr losgekauft», sagt Petrus weiter. Das werden seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sofort verstanden haben. Sklaven, Unfreie konnten gekauft und verkauft werden in der damaligen Zeit. Ihr seid losgekauft wie ein Sklave oder eine Sklavin, jedoch nicht mit Gold oder Silber, wie das üblich wäre, sondern mit Blut. Losgekauft von Eurer bisherigen Lebensweise, von Eurer bisherigen Lebensorientierung. Hier kommt eine ganz neue Dimension ins Spiel. Blut steht symbolisch für das, was den Menschen leben lässt. Jesus Christus hat sein eigenes Blut gegeben, d.h. er ist am Kreuz gestorben, damit die Menschen frei werden – frei werden dazu, ihrem Leben neue Orientierung zu geben, ganz einfach: neu anzufangen.

Einige Verse weiter schreibt Petrus: «Wie Neugeborene nach Milch verlangen, so sollt auch ihr nach Milch, nach unverfälschten Worten, verlangen.» (1 Petr 2, 2) Und: «Diese Nahrung soll euch stark machen, damit ihr Heil und Rettung erfahrt.»

Was prägt unseren eigenen Lebensweg? Wir gedenken heute Eduard Herzogs und der Oltener Gemeinde vor 150 Jahren. Doch tun wir das nicht nur in der Rückschau, sondern mit der Frage, was wir von damals für unser heutiges Dasein, unsere heutige Existenz als Gemeinde mitnehmen wollen und können.

Ich will heute zwei Dinge nennen: Die klare Ausrichtung an der Botschaft der Bibel war prägend für Eduard Herzog. Er ging mit ihr ins Gespräch, hat sich von dieser Frohbotschaft inspirieren und leiten lassen. Er hat dadurch erkannt, dass ein Mensch wie er nur dann gut leben kann, wenn er die Wahrheit dieser Botschaft auch in seinem eigenen Leben ‘ankommen’ lässt. Mit anderen Worten: wenn ein Mensch nach Milch verlangt, «nach unverfälschten Worten».

Zweitens: Neuanfang bedeutet Zurücklassen von Vertrautem und Gewohnten. Das ist nicht leicht. Neuanfang, Neu geboren werden bedeutet aber auch, die Freiheit zu erfahren, sich neu zu orientieren. Und dazu gehört, sich auch neu zu überlegen, was mein Leben eigentlich im Wesentlichen ausmacht. Wie möchte ich leben? Woran richte ich mein Leben und das was ich tue, aus? Welche Wahrheit wird mich freimachen? Freimachen zu einem Leben, in dem ich losgekauft worden bin, um wirkliche Freiheit und Wahrheit zu finden und ihr in aller Wahrhaftigkeit zu folgen.

Heute stehen wir vor anderen Entscheidungen, in unserem persönlichen Leben, für unsere Kirche und Kirchgemeinde. Die Fragen gelten auch heute: Woran richte ich mein Leben aus? Wie handle ich dementsprechend? Welche Wahrheit wird mich freimachen?

Amen.


[1] Zitiert nach Urs von Arx, Die Berufung von Eduard Herzog nach Krefeld im Herbst 1872, in: Internationale Kirchliche Zeitschrift 101 (2011), 156-175. 2011, 172. Vgl. auch Gschwind, Autobiographie, 186 (bei von Arx, Berufung, Anm. 8).

[2] Vgl. dazu Urs von Arx, Berufung, 167 Anm. 23.

[3] Walter Herzog, Bischof Dr. Eduard Herzog. Ein Lebensbild, Laufen (Buchdruckerei „Volksfreund) 1935, 54.

[4] Zitiert nach Herzog, Lebensbild, 58.

[5] Zitiert nach Herzog, Lebensbild, 72.