«Auf einmal spürst du den Krieg am Küchentisch»

Von Kiew ins Fricktal

Anfang März

Der Krieg in der Ukraine tobt seit Ende Februar. Alle Welt ist schockiert von den unfassbaren Nachrichten, die wir zu sehen bekommen. Auch uns als Familie geht das so. Als die Bilder immer schlimmer wurden, die Flüchtlingsströme zunahmen und sich zeigte, dass es jetzt dringend humanitäre Hilfe braucht, haben wir als Familie eine Spende gemacht, um die zu unterstützen, die sich für die Geflüchteten einsetzen und sie betreuen. Unsere Kirchgemeinde betet regelmässig in den Fürbitten um Frieden und hat eine Friedenskerze aufgestellt, die seit einigen Wochen täglich in der Kirche brennt und ein Zeichen für unser Gebet für den Frieden sein soll. Die Kirche ist tagsüber geöffnet und lädt alle ein, zu verweilen und sich dem Gebet anzuschliessen. Und an jedem Abend wird der Kirchturm – weithin über dem Dorf sichtbar – illuminiert in den Farben der ukrainischen Flagge mit einer grossen Friedenstaube.

7. März

Sitzung der Kirchenpflege Möhlin. Wir besprechen die Situation in der Ukraine, vor allem die Flüchtlingssituation, und überlegen, was unser Beitrag sein könnte, wenn die ersten Geflüchteten in Möhlin ankommen und die Gemeinde wegen Hilfsmöglichkeiten auf uns zukommt. Wir wollen helfen, da sind wir uns einig. Wir könnten z. B. das Kirchgemeindehaus zur Verfügung stellen. Aber erst einmal abwarten, wie es sich entwickelt. Wir entscheiden dann spontan.

13. März

10.00 Uhr
Familie Heinz aus Möhlin, von deren Kindern zwei in unserer Kirchgemeinde Ministrantendienst machen, kommen in den Gottesdienst mit einem besonderen Gast, einer Ukrainerin, die mit ihrem Sohn von Familie Heinz aufgenommen wurde.

11.00 Uhr
Wir laden spontan zum Kaffee ins Pfarrhaus ein. «Die Flüchtlinge» sind plötzlich nicht mehr die aus der Berichterstattung im Fernsehen. Olena trinkt mit uns Kaffee. Wir erfahren, wie Familie Heinz alles organisiert hatte, damit Olena und ihr Sohn bei ihnen einziehen konnte. Dann kommt noch Simon Mahrer dazu, der mit seiner Frau Karin und den drei Kindern bereits Irina und ihre drei Töchter aufgenommen hatte (sie sind die erste Gastfamilie in Möhlin, weshalb er auch schon in Zeitungen und im SRF-Radio interviewt wurde). Die Berichte gehen uns zu Herzen, und zwar die traurige Wahrheit der Kriegsfolgen genauso, wie die beeindruckende Solidarität der Familien.

12.20 Uhr
Familie Edringer hält «Familienrat». Die Begegnungen und Geschichten vom Morgen haben uns berührt und aufgewühlt. Können wir das auch – Geflüchtete aufnehmen? Man weiss ja nicht, wer da kommt, welche Folgen der Flucht in unsere Familie gelangen, ob und wie wir selber das alles überhaupt tragen können, welche Einschränkungen unseres Familienalltags das alles mit sich bringt und wie lange das überhaupt gehen wird (sicher ziemlich lange, das ist klar). Viele Fragen und Unsicherheiten stehen plötzlich im Raum. Aber am Ende ist es für alle klar: Wir möchten Geflüchteten einen Platz bei uns geben.

Die Friedenskerze in der offenen Kirche St. Leodegar brennt jeden Tag als Symbol für das Gebet für den Frieden

12.58 Uhr
Ich schreibe im Kirchenpflegechat, dass wir uns als Familie entschieden haben, Geflüchtete aufzunehmen und dass bereits ein Kleinbus mit Geflüchteten nach Möhlin unterwegs ist, wie wir erfahren haben. Die Reaktion unisono: Ja, sagt zu. Wir unterstützen euch. Und ich darf den Jugendraum anbieten, den die Familie als privaten Wohnbereich nutzen kann. Freude und Erleichterung bewegen mich. Und das Glücksgefühl, diese Kirchenpflege an der Seite zu haben.

14.00 Uhr
Ich sitze am Computer und registriere uns als Familie mit klopfendem Herzen für zwei Geflüchtete bei der schweizerischen Flüchtlingshilfe. Am Ende des Online-Formulars und der zu beantwortenden Fragen klicke ich auf «senden». Ich habe wohl selten einen Klick so bewusst gemacht. Den ganzen Tag über reden wir in der Familie immer wieder darüber, wie es wohl werden wird. Alle spüren die Bedeutung dieser Entscheidung.

20.00 Uhr
Per Telefon kommt von Familie Mahrer ein Notruf. Daria, einer Kollegin von Irina, ist überraschend die Flucht aus dem bombardierten Kiew gelungen. Sie hat es schon über die polnische Grenze geschafft, zusammen mit ihren drei Kindern. Und sie würde gerne nach Möhlin kommen. Sie könnten zwar für die erste Nacht bei Familie Mahrer unterkommen, aber besser wäre, sie wüssten schon, in welcher Familie sie dauerhaft aufgenommen würden.

Noch einmal Familienrat bei Familie Edringer. Vier Personen statt zwei – trauen wir uns das zu? Schaffen wir das? Keine Ahnung. Aber eines wissen wir: Wir sind jetzt nicht mehr nur Beobachter des Ganzen, sondern Beteiligte. Und wir wollen helfen. Gemeinsam. Auch Carla und Franca sind glasklar in ihrer Entscheidung: «Papa, du predigst immer, wir sollen helfen. Also tun wir das jetzt!» Ich habe Tränen in den Augen…
Svenja meldet sich bei Familie Mahrer. Wir sagen zu.

20.45 Uhr
Aktuelle Nachricht: Daria ist mit ihren Kindern bereits in Polen angekommen. Schneller als erwartet.

Kurzzeitig bricht Hektik bei uns aus. Wir richten blitzartig den Jugendraum ein: Matratzen vom Estrich, Kissen aus dem Keller, ein Regal aus Carlas Zimmer, Ein Tisch aus dem Saal im Kirchgemeindehaus, Handtücher, Nachttischlampen. Alles improvisiert, weil es auf einmal so schnell ging. Aber fürs Erste okay. Sie können kommen.

14. März

Für mich beginnt die Pastoralkonferenz in Hertenstein. Ich werde früher abreisen müssen, denn Martin Heinz und Roland Ryser machen sich bereits mit Nuris Auto auf den Weg nach Dresden, wo Daria mit ihren Kindern ankommen soll. Berlin ist ja völlig überlaufen, darum haben sie ihr den Tipp mit Dresden gegeben. Alles klappt. Sie finden sich und die Vier können einsteigen. Im Auto schlafen sie nach drei Tagen Flucht völlig erschöpft ein und schlafen während der gesamten Fahrt von Dresden nach Möhlin durch.

15. März

05.22 Uhr
Es läutet. Svenja und ich schrecken hoch. Ich hatte die Nachricht mit dem Hinweis, wann sie eintreffen würden, tief schlafend überhört. Wir ziehen uns hastig an und gehen runter. Auch Carla und Franca machen sich schnell fertig. Unsere Gäste schlafen immer noch im Auto. Martin und Roland sind aber guter Dinge. Alles hat super geklappt.

Die Vier werden so langsam wach, wir setzen uns ins Wohnzimmer und trinken gemeinsam erst einmal einen Kaffee. Essen mögen sie noch nichts, aber die Kinder geniessen das Kuscheln mit unserem Hund und den beiden Katzen. Zu erschöpft sind sie noch, aber die Tiere helfen super beim Ankommen. Gepäck haben sie keines. Nur die Kleider am Leib und je einen kleinen Rucksack mit etwas Proviant, Dokumenten und Handy. Sonst nichts. Sie sind erschöpft und freuen sich aufs Schlafen.
Ab jetzt wird uns übrigens die Übersetzungs-App auf dem Handy der wichtigste Begleiter sein, denn sie sprechen nur Ukrainisch und Russisch, Daria noch ein paar Worte Englisch.

16. März

Nadja Ryser, Kirchenpflegerin und Katechetin, startet im Chat der Relikinder einen Aufruf: Wir brauchen Kleidung, Schuhe, Alltagsdinge, Spielzeug, aber auch Velos, Helme, Trottis, etc. Die Gäste haben gar nichts. Binnen kürzester Zeit stehen vor unserem Haus die Autos Schlange. Alle Familien haben etwas rausgesucht und bringen es vorbei. Kinder kommen mit und übergeben persönlich ihre Geschenke. Das geht so den ganzen Tag und auch noch am Tag drauf. Svenja koordiniert Nachfragen und Angebote. Wir sind überwältigt, können die Tränen oft nicht zurückhalten, berührt von der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Ich bin stolz auf meine Kirchgemeinde und froh über die Hilfe!

Heute

Die ersten Tage sind anstrengend, aber gut gelaufen. Wir kommen so langsam in der neuen Situation an. Daria und ihre Kinder sind offiziell angemeldet (und damit auch krankenversichert), Unterricht und Deutschkurse laufen, wir Gastfamilien sind vernetzt untereinander, die Kooperation zwischen Privatpersonen, Gemeinde und Behörden klappt in Möhlin supergut. So viele Menschen helfen, wie sie nur können!

Aber wir wissen auch, dass da noch einiges auf uns zukommt, und zwar nicht nur organisatorisch. Bei einem Spaziergang mit unserem Hund Paco und dem 7-jährigen Artiom, konnte ich sehen, welche Verletzungen seine Seele verkraften muss: Die Kirchenglocken unserer und die der römisch-katholischen Kirche schlugen gleichzeitig die Uhrzeit. Artiom hat sofort panisch die Hundeleine fallen gelassen, kniff die Augen zu und hielt sich die Hände auf die Ohren. Daria sagt mir später beim Kaffee in der Küche, dass er Granateneinschläge und Sirenen erlebt hat. Auf einmal spürst du den Krieg und seine Folgen am eigenen Küchentisch. Dir kommen die Tränen, weil du Menschen triffst, die wegen des Leides, das sie erfahren müssen, bei dir sind, geflohen und Zuflucht suchend, und du es gleichzeitig als Geschenk erlebst, wie du und so viele andere sich dieser Menschen annehmen und zu helfen bereit sind. Solidarität und Menschlichkeit. Du bist berührt, weil es nicht mehr nur anonym «die Flüchtlinge» in den Medien sind. Die Nachrichten bekommen ein Gesicht, einen Namen, eine persönliche Geschichte. Und die verbindet sich hier mit den Menschen, Namen und Geschichten derer, die helfen.

Wir wissen als Familie und als Kirchgemeinde heute noch nicht, was da noch auf uns wartet, welche Klippen wir umschiffen, welche Probleme wir lösen und welche Fragen wir noch beantworten müssen. Keine Ahnung, wie wir als Familie, die über Nacht vom Vier- auf einen Acht-Personen-Haushalt gewachsen ist, das alles meistern werden. Offen die Frage, was das z. B. für unsere Ferienplanung, unser Portemonnaie und unseren beruflichen bzw. schulischen Alltag bedeuten wird. Aber wir spüren, dass die getroffene Entscheidung für uns als Familie stimmt. Es ist richtig, dem zu trauen, was man tun kann – und für den Rest, den man nicht in der Hand hat, darauf zu vertrauen, dass menschliche Solidarität und Gottes Segen uns stärken und wir in dem, was wir tun, getragen sind.

Christian Edringer