«Aufstehen für die Menschlichkeit»

Musik: Widerstand – Applaus – Liebeserklärung

Titelblatt der Eroica, von Beethoven. Korrigierte Abschrift mit dem ausradierten Untertitel «ntitolata Bonaparte». Ursprünglich stand: «Sinfonia grande, intitolata Bonaparte» (Große Sinfonie, mit dem Titel Bonaparte). Die letzten beiden Worte wurden von Beethoven ausradiert, sind aber noch lesbar.

Was wäre der Mensch ohne die Musik? Grillenzirpen am Abend, eine zum Tanz aufspielende Stradivari, das Bimmeln der Strassenbahn, Gregorianischer Choral, Gackern der Hühner, Piccoloflöten am Morgenstraich, nicht enden wollendes Fröschequaken, Schwyzerörgelimusig, das Wiener Neujahrskonzert mit dem obligaten musikalischen Scherzen, die Kuhglocken, das fulminante Orgeltutti an Ostern: «Das isch Musik für d`Bei» nach dem Lied der Geschwister Schmid. Mit Musik lässt sich streiten, ist Widerspruch riskierbar, kann eine Liebeserklärung gemacht werden. Es kann applaudiert werden. Der Besuch eines Konzertes in Lausanne, bei dem die Musiker für die Sache des Impfens einstimmen wollten, zeigte, wie nahe Protest und Applaus zusammenliegen. Wir stellten uns nach dem Konzert mit der «Dabu-Fantastic-Band» die Frage, welche Funktionen die Musik haben kann.

Musik: Ohne Spaltung durch die Krise

Zum «Impfkonzert» mit den nur wenigen Besuchern sagte Oliver Rosa, der die Konzerte organisierte: «Es wurde offenbar von den Massnahmengegnern Schabernack betrieben und Tickets ganz bewusst blockiert». Für Dabu Bucher, einem der Musiker, war klar: «Es geht um die Sache und nicht um die persönliche Karriere! Wir beziehen Stellung und dabei hat die Musik eine magische Energie. Und nichts zu sagen ist bereits ein Verbrechen.» Es sei doch das «Coole» in der Schweiz, dass man mit verschiedenen Meinungen, Sprachen, Kulturen einen Konsens finden kann und sich organisieren muss, wie man zusammenleben will – dorthin müssten wir unsere Energie stecken. Nicola Forster, Präsident Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft SGG, nimmt in einem Brief vom 20. November 2021 die Anliegen der Musiker auf: «Die Covid-Pandemie spaltet Freundschaften, Familien und die Gesellschaft. In der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg riskieren wir heute zu verlieren, was die Schweiz seit ihrer Gründung stark gemacht hat: unseren Zusammenhalt über Gräben hinweg, unseren Zusammenhalt in schwierigen Momenten, unsere demokratische Kultur. Die SGG ruft deshalb zur Rückkehr zum Dialog und zu einer respektvollen Gesprächskultur auf. Mit dem Appell ruft sie die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes dazu auf, wieder vermehrt konstruktiv statt aggressiv zu streiten sowie für Anstand, Respekt und Dialog einzustehen und die Meinungsvielfalt zu verteidigen».

«Ah! Ça ira»: Französische Revolution

Und, wie war es in der Vergangenheit? «Ah! Ça ira» – Ah, wir werden es schaffen – bezeichnet den Beginn und wiederkehrenden Refrain des Kampfliedes aus der Zeit der Französischen Revolution. Im Mai 1790 entstand das Lied und wurde während des grossen Föderationsfestes vom 14. Juli 1790 immer wieder gesungen. Es rief zum Kampf gegen Aristokratie, Klerus und Adel auf. Wer das Lied sang, gehörte dazu. Von der Melodie her ist «Ça ira» auf dem zeitgenössisch populären Kontratanz «Le Carillon national» aufgebaut. Es konnte mitreissen, begeistern. Die Popularität der Redewendung «Ça ira» geht auf Benjamin Franklin (1701-1790) zurück, der damit seine Prognose zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg abgab. Bald sollte ein weiteres Revolutionslied, die Marseillaise, Inbegriff der neuen Ideale werden.

Denkmal von Frédéric Chopin in Warschau.

Ludwig van Beethoven: Begeisterung für Napoléon

Ganz in der Stimmung dieser Musik ist Ludwig van Beethovens (1770-1827) Begeisterung für Napoléon Bonaparte zu verstehen. Seine Dritte Symphonie sollte den Titel «Buonaparte» tragen. Beethoven plante 1804 von Wien nach Paris zu übersiedeln. Als sich der Erste Konsul am 2. Dezember 1804 selbst zum Kaiser krönte, war Beethoven enttäuscht und nahm die Widmung zurück. Die erste Seite wurde neu geschrieben. Nun erst erhielt die Symphonie den Titel: «Sinfonia Eroica». Auf dem Titelblatt stand ursprünglich: «Sinfonia grande, intitolata Bonaparte» – grosse Sinfonie, mit dem Titel Bonaparte. Die letzten beiden Worte wurden von Beethoven ausradiert, sind aber noch lesbar. In seiner «Eroica» verwendete er sowohl Anleihen aus der französischen Revolutionsmusik – gerade im 2. Satz – als auch Anklänge an die Bach’sche Polyphonie. Dies war vielleicht seine musikalische Vision einer deutschen republikanischen Gesellschaft. Beethoven liess die Dritte Symphonie musikalisch unverändert, was sich vielleicht damit erklären lässt, dass er nach wie vor an den von Napoleon verratenen Idealen der Revolution «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» festhielt. Dies sollte sich im übrigen Europa nun nicht mehr durch-, sondern im Kampf gegen Napoléon umsetzen.
Frédéric Chopin: Das stärkste Geschütz der Polen
Die Nationalsozialisten setzten die Musik als Machtmittel ein, um ihre menschenverachtenden Ziele zu verwirklichen. So gehörte das Verbot der Musik von Frédéric Chopin (1810-1849) zum erklärten Programm der Nazis. Sie trafen damit einen Lebensnerv der Polinnen und Polen. Mit Chopins Musik waren Gefühle der nationalen Identität verknüpft. Seine Musik hat den Widerstandsgeist der Polen angefeuert. Das wussten die Nationalsozialisten genau und fürchteten dies.

Vom Respekt zum Verbot

Dass Chopins Musik ein Todesurteil sein konnte, war nicht immer so. Im Frühjahr 1935 hatte Hitlers Deutschland noch Respekt vor dem Komponisten. Das Dritte Reich war wirtschaftlich und militärisch geschwächt. Es hatte mit Polen einen «Nichtangriffspakt» geschlossen. Vier Jahre später dann doch der Einmarsch der Deutschen in Polen: Zweiter Weltkrieg. Für Chopin und für die Musiker begannen verheerende Zeiten. Mit den «Kulturpolitischen Richtlinien» von 1940 hatten die deutschen Behörden strengste Auflagen erlassen: Für das Musikleben sei «primitive Unterhaltung» erlaubt, jedoch nichts, was «künstlerische Erlebnisse» auslösen könne. Aus der polnischen Musik seien «Märsche, Volkslieder sowie klassische Werke» verboten. Der «Geist des Polentums» dürfe auf keiner Veranstaltung in Erscheinung treten.

«Unter Blumen eingesenkte Kanonen»

Das galt in besonderer Weise für Chopin. Sein Denkmal, ein Wahrzeichen Warschaus, zeigt den Künstler, wie er unter einer Trauerweide sitzt, die vom Sturmwind gezaust wird. Das Denkmal wurde im Mai 1940 gesprengt, die Bronzeteile eingeschmolzen. Selbst Kopien des Denkmals in Museen wurden zerstört. Für sich selbst spielten die Polen – illegal, versteht sich – am liebsten die «Revolutionsetüde» sowie die «As-Dur-Polonaise», erzählte der polnische Pianist und Komponist Jan Ekier und erinnert an Robert Schumanns Ausspruch: «Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen». Die Bedrohung, die über jedem Konzert schwebte, das Risiko, ins KZ zu kommen und sein Leben zu verlieren, habe diesen Veranstaltungen eine «glühende Stimmung» verliehen. Als 1944 der Warschauer Aufstand ausbrach und die polnische Heimatarmee einige Stadtteile über Wochen halten konnte, spielte Ekier in der Aula des Polytechnikums die «Revolutionsetüde». «Plötzlich flog eine Gewehrkugel durchs offene Fenster, schlug gegen die Wand und blieb nicht weit von mir liegen. Ich sah es aus dem Augenwinkel, aber ich spielte weiter, ich liess mir nichts anmerken. Der Beifall war gewaltig. Nachdem ich mich verneigt hatte, hob ich die Kugel auf, als sei sie ein herausgefallenes Taschentuch». Während des Aufstandes sei die Musik kein blosses «Ornament», sondern ein «Artikel des täglichen Bedarfs» gewesen, erinnerte sich Ekier. Auch für die Juden in Warschau galt das Chopin-Verbot. Wer ihn gespielt hätte, erinnerte sich Marcel Reich-Ranicki an seine Zeit im Ghetto, «der hätte wahrscheinlich diesen Tag nicht überlebt». Alle möglichen «arischen» Komponisten wurden im Ghetto aufgeführt, doch Chopin blieb das grösste Risiko.

Der russische Komponist Dimitri Schostakowitsch.

Josef Stalin und Dimitri Schostakowitsch

Welche Bedeutung konnte man der Musik unter dem russischen Machthaber Josef Stalin (1878-1953) beimessen? Nach seiner Oper «Lady Macbeth» stand Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) im Kreuzfeuer der Kritik. In der Prawda war unter dem Titel «Chaos statt Musik» ein vernichtender Artikel erschienen. Der Komponist lebte fortan in Angst. Mit seiner Fünften Sinfonie wendete sich das Blatt: Schostakowitsch erntete bei der Uraufführung 1937 einen tosenden Applaus. Der Erfolg war berauschend und auch die Parteiführung nahm die Musik wohlwollend auf. War es vom Komponisten eine Anpassung ans stalinistische System oder das Gegenteil: War es eine zynische Antwort darauf?

Opportunismus oder Freiheit?

Von Chaos kann hier keine Rede mehr sein: Das Werk ist viersätzig wie eine romantische Symphonie. Einfach aufgebaut mit Rückgriffen auf altbekannte formale Vorbilder, zum Beispiel die Sonatensatzform oder die Scherzoform. Und: Sie führt, wie man das seit Beethoven kannte, «vom Dunkel ins Licht». Das Licht, die Erlösung, ist der Schluss: ein glorioser Marsch, mit fortissimo schabenden Geigen, donnernden Pauken, jaulendem Blech. Es wiederholt sich am Ende dauernd derselbe Schlussakkord. Das kann erhaben klingen, als würde man sich vor den Grössen der Partei verneigen. Es kann aber auch heissen: «So hohl! Immer dasselbe. Fällt der Partei nichts Neues mehr ein?» Bis heute ist nicht geklärt, welche Intention Schostakowitsch mit seinem Schlussmarsch hatte. Man streitet sich auch über das Tempo dieses Schlusses. Die langsame Version klingt grotesker als die schnelle, wirkt eher ironisch als die doppelt so schnelle Version: Die langsame Version von Kirill Petrenko dauert 01.55 Minuten und die schnelle Version von Leonard Bernstein dauert 00.50 Minuten. Wie also entscheiden? Ist der Schlussmarsch ein Triumph des Opportunismus oder ein Triumph der Freiheit? Genauso fragte sich auch die Kulturredakteurin von Radio SRF, Annelis Berger, warum das Publikum damals so frenetisch jubelte? Hat es sich tatsächlich vom Taumel dieses Schlusses verführen lassen? Oder hat es intuitiv gemerkt, dass da einer versucht, den Oberen ein Schnippchen zu schlagen, indem er den Jubel zur Farce verkommen lässt?

Mercedes Sosa / Gabriela Montero : Widerstand und Musik

In Südamerika stehen zwei mutige Frauen für den Widerstand mittels der Musik. Mercedes Sosa (1935-2009) aus Argentinien, kämpfte ihr Leben lang mit der Musik gegen Diktatur, Armut, Neoliberalismus. Ihr Name steht für den «Nueva Canción». Das neue folkloristische Genre Lateinamerikas sollte nicht nur traditionelle Liedformen bewahren; es zeigte zunehmend, wie Musik politische Wirkung haben kann. „La Negra Sosa“, wie man sie liebevoll nannte, wurde zu einer der markanten Stimmen der Musikrichtung, die gesellschaftliche Missstände anprangerte. Sie zeigte durch ihre Musik unmissverständlich auf, wie viele politisch und wirtschaftlich Verantwortliche Mensch und Natur schamlos ausbeuteten. Sie prangerte sie an und riskierte dafür, sterben zu müssen. Mit ihren Liedern wollte Mercedes Sosa aber auch trösten, den Menschen Mut machen. In dem Lied «Gracias a la Vida» bringt sie die ganze Kraft und Herzenstiefe ihrer Botschaft zum Ausdruck.

Musik und Menschlichkeit

Die zweite Frau ist die Pianistin Gabriela Montero (geb. 1970) aus Venezuela. Sie setzt sich auf und neben der Konzertbühne dafür ein, dass die Welt von den Menschenrechtsverletzungen in ihrem Heimatland Venezuela erfährt. Nur wenige Musikerinnen und Musiker der Klassik-Szene äussern sich öffentlich zu politischen Themen. Warum eigentlich? Gabriela Montero hat sich ihren Einsatz als politische Aktivistin nicht ausgesucht. Sie hätte es so unbeschwert und schön haben können. Ihr wurden Engagements angeboten, die sie zum Stillhalten verpflichtet hätten. Sie lehnte es ab, für die Machthaber zu musizieren. Das hatte zur Folge, dass sie sich als Regimegegnerin öffentlich positionieren musste, wenn sie zur Verantwortung für die Menschlichkeit aufrief. Heute lebt sie im Exil und kämpft dafür, dass ihr Land nicht vergessen wird. Mit ihrem politischen Engagement ist sie ziemlich alleine.

Musik trifft in Knochen und Herz

Gabriela Montero hatte zunächst im Konzertsaal das Wort ergriffen. Sie merkte, dass die Leute zuhören, doch das Gesagte bald wieder vergessen. Worte erreichen nur den Verstand, Musik trifft in Knochen und Herz. Die Musik erzählt eine Geschichte und kann diese Botschaft wie ein trojanisches Pferd transportieren, sagte mir die Radiojournalistin vom DRS, Jenny Berg, die mit Gabriela Montero ein Interview führte. Heute sprenge sie nicht mehr den Rahmen der Kommunikation.

«Angst» ist keine Option

Die Venezolanerin spricht aus, was ganz allgemein mit Musik erreicht werden kann. Sie will durch die Musik auf die Schwierigkeiten in ihrer Heimat hinweisen, verändern kann sie es nicht. So will sie etwa mit ihrer Komposition «Ex Patria» an die 20’000 Menschen denken, die in Venezuela 2011, während eines einzigen Jahres ermordet wurden. «Musik kann helfen», so die Pianistin, «auf Leid, Schmerz und die schwierige Situation in Venezuela aufmerksam zu machen. Musik ist eine grossartige Möglichkeit, Empathie zu erzeugen. Sie verstehen jetzt, dass es sich nicht um Politik handelt – sondern, dass es eine menschliche Tragödie ist, die dort stattfindet, die nicht von Rasse und Religion abhängt.» Ob sie nicht Angst habe, selbst Opfer zu werden? «Angst ist keine Option; denn, wenn wir nicht aufstehen für die Menschlichkeit, dann sind wir niemand – das müssen wir mit der Musik in die Welt tragen».

Niklas Raggenbass