Migrationsgemeinde? – Neue Einsichten in die Geschichte der Basler Kirchgemeinde

Gemeindejubiläum Basel

Der 18. Juli 1870 in Rom! Über der sommerlich schwülen Stadt geht donnernd ein Gewitter nieder. Es taucht die Peterskirche in Dunkelheit. Manche Römer halten das Schauspiel der Natur für ein Zeichen himmlischer Zustimmung. Für andere ist es ein Ausdruck des göttlichen Zorns über eine Proklamation im Innern der Peterskirche. Dort verkündet das erste vatikanische Konzil feierlich ein für alle Katholiken nun unumstößliches Dogma, das bis heute zu den umstrittensten Beschlüssen der Kirchengeschichte zählt:
«Wenn der römische Papst ex cathedra spricht […], dann besitzt er […] jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei Entscheidungen zur Glaubens- und Sittenlehre ausgerüstet wissen wollte. […] Wer sich vermessen sollte, was Gott verhüte, dieser unserer Glaubensentscheidung zu widersprechen, der sei verflucht.»

Zwar ist der Beschluss mit 535 gegen zwei Stimmen verabschiedet worden. Aber nicht einmal die Hälfte aller stimmberechtigten Bischöfe ist bei dieser entscheidenden, feierlichen Zusammenkunft im Petersdom dabei. Die einen sind gar nicht zum Konzil angereist, andere haben ihren Protest durch vorzeitige Abreise zum Ausdruck gebracht. Schon zu Beginn des Konzils war offensichtlich geworden, dass der Papst die persönliche Unfehlbarkeit und den Jurisdiktionsprimat unbedingt wollte. Nicht zuletzt aus machtpolitischen Gründen: Er bangte um seine weltliche Herrschaft im Kirchenstaat. Pius IX. sah seine Macht als politischer Souverän durch die italienische Einigungsbewegung bedroht. Protestanten bestritten immer heftiger seine Autorität. Liberale setzten den Willen des Volkes an die Stelle göttlicher Normen. Demokratische Bestrebungen breiteten sich selbst auf katholischen Synoden aus. Gegen diese Bedrohungen sollte ein Schutzwall errichtet werden – die unfehlbare, sozusagen göttlich untermauerte Autorität des Papsttums.

Das eben war ein Ereignis, das zum einen von weiten Teilen des Kirchenvolkes in nahezu allen Ländern stark bejubelt wurde. Der sogenannte «Ultramontanismus» war im Wesentlichen eine Laienbewegung und feiert die neue Papst-Definition als einen Erfolg über die liberalen und antimonarchistischen Kräfte in Kirche und Welt. Die neuen Lehren stiessen aber auch auf den hartnäckigen Widerstand in Kreisen des katholischen ‘Kirchenvolkes’. Nicht nur in Deutschland, in Österreich, in den Niederlanden und den USA begann sich die Ablehnung der «Neuerungen» zu formieren. Auch in der Schweiz bildeten sich Vereinigungen, die die neu erlassenen Dogmen als untragbar und unhistorisch ablehnten. Der Vorwurf liess sich zusammenfassen in der Feststellung, dass eine «neue Kirche» erfunden worden sei.

Schnelle Anerkennung

Diese Anfänge haben in Basel einen eigenen Weg genommen. Während sich die reformierten Bürger Basels bei zahlreichen Fastnachtsbällen über die neuen römischen Ansprüche belustigten, formte sich in der katholischen Bevölkerung erst zögerlich, dann aber rasch und energisch Widerstand. Im Jahr 1872 fanden erste Versammlungen von Gegnern der neuen Dogmen statt. Ab Januar 1873 organisierte sich die Gegenbewegung im «Verein freisinniger Katholiken». Diese Bewegung entfaltete noch im selben Jahr eine erstaunliche Dynamik, die dazu führte, dass sich der Verein am

Oktober als «altkatholische Kirchgemeinde» konstituierte. Umgehend erhielt diese alternative Kirchgemeinde noch im November 1873 die behördliche Anerkennung und die Erlaubnis zur Anstellung eines Pfarrers und zur Feier der Sakramente. Sie wurde sogar im weiteren Verlauf als die einzige «katholische Landeskirche» von den staatlichen Behörden anerkannt. Die ‘römischen’ Katholiken blieben zunächst jahrzehntelang im selbstgewählten Ghetto und im juristischen Status einer privaten Gesellschaft.

In der Leitungskommission des «Verein freisinniger Katholiken» und dann in der sich bildenden Kirchgemeinde finden sich erwartungsgemäss renommierte, in der Regel freisinnige Bürger mit katholischer Konfession: Grossräte, Anwälte, Unternehmer, Fabrikanten, Handwerksmeister, Offiziere, Journalisten etc. Ihre Vorgehensweise entspricht in weiten Teilen dem anderer Kirchen-Vereine in der Schweiz, – wenn auch mit einer gewissen Tendenz zu markanten Entscheidungen.

Fasnachtsumzug 1871: Päpstliche Unfehlbarkeit, Papst und Tambourmajor. Bild: H. Waeffler-Wevin.

Forschungsprojekt

Doch diese historischen Kenntnisse bzgl. der Leitungskommission bilden nur einen Aspekt der Entwicklung der Kirchgemeinde. In mancher Hinsicht bleibt diese Perspektive der «bedeutenden Männer» an der Oberfläche, – wie das bei dieser Art der Geschichtsschreibung im Bezug auf die grossen, bedeutenden Personen fast immer der Fall ist.

Der Impuls des 150-Jahre-Jubiläums der Dogmatisierung der Infallibilität führte in der Basler christkatholischen Kirchgemeinde zu einem kleinen Forschungsprojekt, das in Teilen von der Theologischen Fakultät Basel begleitet wird. Ziel dieses Projektes ist es nun, die Struktur der christkatholischen Kirchgemeinde in der ersten Phase ihrer Entwicklung besser zu analysieren und zu verstehen. Es geht also darum, die Zeit der Anfänge in ihrer sozialen, mentalen und spirituellen Dimension wieder ins Bewusstsein zu heben, um aus diesem Rückblick Inspirationen für die Gegenwart und die Zukunft zu gewinnen.

Aber wer sich erinnern will, braucht eine Möglichkeit, die Spuren der Vergangenheit nüchtern und möglichst unverstellt zu sehen. Hier war ein erster Glücksfall hilfreich: Das Protokollbuch der Leitungskommission des Vereins und der späteren Kirchgemeinde wurde im Archiv wiederentdeckt. Das Protokollbuch verhilft zu einem tieferen Verständnis der Identität und des Selbstbewusstseins sowie der Strategie des Gremiums. Auch die Vorstellungen darüber, wie sich die Kirchgemeinde entwickeln solle, welche Gebäude sie nutzen solle und wie der Finanzbedarf zu decken sei, lassen sich in dem Protokollbuch bestens erkennen: Intensive und enge Kooperation mit den reformiert geprägten Behörden und eine eher zuhaltende bis defensive Haltung gegenüber den offensiven Attacken der römisch orientierten Katholiken, um den konfessionellen Frieden zu erhalten.

Auszug aus dem Basler Protokollbuch : Generalversammlung am 27. Juni 1873.

Heterogene Gemeinde

Zudem wurde innerhalb des Forschungsprojektes begonnen, die Taufbücher der ersten Jahre zu transskribieren (Sie sind mehrheitlich in der Sütterlin-Schrift verfasst!) und zu digitalisieren. Aus diesen Taufbüchern lassen sich nun viele Einsichten in die kulturelle Prägung und die soziale Zusammensetzung der sich neu bildenden Kirchgemeinde gewinnen. Einige erste Eindrücke sollen hier vorsichtig skizziert werden.

Während die Leitungskommission und vor allem ihre Protagonisten bürgerlich, national und liberal ausgewiesen waren, stellt sich das Bild, das sich aus der Erfassung der Kirchenbücher ergibt, deutlich anders dar. Das zeigt sich vor allem bei der Durchsicht der ersten Taufbücher. Hier finden sich neben Berufsangaben aus dem Bereich des Handwerks (Schneider, Schuhmacher, Zimmermann) nicht selten auch solche, die eher auf ein Lebensniveau mit geringer gesellschaftlicher Anerkennung verweisen wie Magazinknecht, Taglöhner, Metallflechter, Hilfskellner, Hilfsarbeiter oder Hausangestellte. Der in den ersten Jahrgängen der Taufbücher mehrfach zu beobachtende Verzicht auf eine Berufsangabe weist tendenziell auf eine Arbeitslosigkeit oder das Verschweigen einer wenig respektablen Tätigkeit hin.

Die Einwohnerzahl des prosperierenden Industriestandortes Basel wuchs von ca. 44.000 Personen im Jahr 1870 auf ca. 110.00 im Jahr 1900. Einen wichtigen Beitrag zu diesem Wachstum leisten die Zuwanderungen aus den ländlichen Gebieten der Schweiz nach Basel. Sofern die EinwanderInnen zur katholischen Tradition gehören, übt die neue Bewegung der freisinnigen Katholiken eine erkennbare Anziehung auf sie aus. Diese innerschweizerische Arbeitsmigration vom Land in die Stadt ist ein wichtiger Faktor für das markante Anwachsen der christkatholischen Kirchgemeinde in den ersten Jahrzehnten.

Übertroffen wird dieser Faktor allerdings von der Migrationsbewegung aus dem nahen Ausland. Einzelpersonen und auch Familien werden durch die Arbeitsmöglichkeiten vor allem aus dem Grossherzogtum Baden, dem Königreich Württemberg und aus der seit 1870 deutschen Provinz Elsass angezogen. So haben die Eltern, die ihre Kinder in der neuen christkatholischen Kirchgemeinde taufen lassen, zu einem wesentlichen Teil ihre Bürgerrechte nicht in Basel oder in einem anderen Schweizer Ort. Bei mehr als die Hälfte der getauften Kinder stammt mindestens ein Elternteil aus den angrenzenden Ländern, wobei das Gros der Immigranten aus einem Gebiet zuwandert, das sich von Basel aus in einem Radius von ca. 350 Kilometern westlich (bis Paris) bzw. nördlich (bis Stuttgart) erstreckt. Erwähnenswerte Ausnahmen sind Taufen von Migranten aus Schlesien, dem Königreich Preussen und aus Hessen. Bezüglich der Taufpaten lässt sich im Übrigen das Phänomen beobachten, dass es unter ihnen einen wesentlichen Anteil von Migraten gibt.

Taufpraxis ändert sich

So scheint es wichtig bei der Entwicklung der Kirchgemeinde zu berücksichtigen, dass ein Teil ihrer Mitglieder über eine geringe soziale Stellung verfügt. Das schlägt sich auch in den Wohnadressen nieder, die sich mehrheitlich in nicht arrivierten Quartieren finden. Die Leitung des Vereins dagegen setzt sich aus – soweit dies im streng reformierten Basel für Katholiken überhaupt möglich war – durchaus sozial avancierten Personen zusammen. Aufgrund der sozialen Zusammensetzung kann auf diesen ersten Blick eine grundsätzlich erhöhte Bereitschaft zu Veränderung erwartet werden, da ein Fortbestehen der Ordnungen nur zu einer Verfestigung der eigenen Benachteiligung führen würde.

Auszug aus dem Taufbuch von 1879. Der Basler Pfarrer, Otto Hassler, aus Preussen taufte seinen eigenen Nachwuchs am 12. Januar 1879 (Eintrag 2).

Eine zweite, sehr wichtige Erkenntnis liefert bereits dieser erste, noch unvollständige Eindruck von den Taufbüchern: Das Geburtsdatum und das Taufdatum fallen häufig markant auseinander. Oft liegen z.B. in den Jahren 1879 und 1880 mehrere Monate zwischen Geburt und Taufe. Die zwingende Voraussetzung des Taufsakramentes für die Kirchenmitgliedschaft wird von der christkatholischen Kirche zwar systematisch-theologisch nicht in Frage gestellt, jedoch in praktischer Hinsicht modifiziert. Die massiven Veränderungen erfolgen also nicht auf der Ebene der Lehre, sondern in lebenspraktischer und kultureller Hinsicht. Die römisch-katholische Tradition forderte die Taufe innert weniger Tage nach der Geburt. Dies gelang nicht zuletzt mit der angstgenerierenden Vorstellung, dass ungetaufte Kinder zwar nicht in die Hölle, aber doch an einen Ort ewiger Freudlosigkeit verbannt würden. Die christkatholische Kirchgemeinde dehnte den Zeitraum zwischen Geburt und Taufe nun weit. Eine Folge davon war, dass die Mütter bei der Taufe anwesend sein konnten. Im Weiteren wurde zudem der Aufwand für ein Taufessen etc. durch die nicht zwingende Fixierbarkeit des Datums variabel. Obwohl die christkatholische Kirchgemeinde vom Kanton zunächst die Martinskirche zur Nutzung erhalten hatte und ab 1877 die Predigerkirche in Nutzung nehmen konnte, fanden zahlreiche Taufen in Privathäusern, Wohnungen und sogar im Bahnhofsbuffet statt!

Hier zeigt sich eine elementare Veränderung im Bereich des Kirchenverständnisses. Die absolute Sakralisierung des kirchlichen Handelns – die sich als Gegenbewegung zur Aufklärung und dem damit verbundenen politischen Bedeutungsverlust in der «ecclesia romana» etabliert hatte – wich innerhalb weniger Jahre Frist einer eindeutigen Ent-Sakralisierung. Das Taufsakrament wurde in der Basler Kirchgemeinde zwar weiterhin auch Kleinkindern gespendet, auch die Heilsnotwendigkeit blieb unbestritten, doch die Spendung des Sakramentes wurde ‘entdramatisiert’ und einer gewissen Vernunftordnung unterzogen. Auch das Kirchengebäude als «Heiliger Ort» erfuhr insofern eine Relativierung, als dass alternative Räumlichkeiten ohne besondere Sakral-Attitüde für die Taufspendung genutzt wurden. An diesem Punkt hat die Kirchgemeinde Basel innerhalb weniger Jahre eine klare Abgrenzung gegenüber der Praxis der römischen Kirche vorgenommen: Die Heilsereignisse konnten in Alltagsnähe und in profanen Räumen gefeiert werden.

Mündliche Überlieferungen

Diese ersten Einschätzungen sollen nun in den kommenden Monaten und Jahren bis zum 150-jährigen Bestehen der christkatholischen Kirchgemeinde in Basel im Jahr 2023/24 beständig ergänzt und entwickelt werden. Das Faktum des Zusammenwachsens der Basler Kirchgemeinde aus Menschen unterschiedlicher Kulturen, unterschiedlicher sozialer Stellung und unterschiedlicher nationaler Herkunft bildet schon jetzt einen intensiven Impuls für das gegenwärtige Selbstverständnis und für die zukünftige Entwicklung.
Neben den genannten Protokollen und Kirchenbüchern soll auch die «oral history», die mündliche Überlieferung von der Gründungsphase berücksichtigt werden. In diesem Kontext finden dann auch sehr viel deutlicher die Frauen als Trägerinnen der Kirchwerdung Erwähnung. So erinnern sich ältere Gemeindeglieder an die Entschiedenheit einer Frau Gebhardt (geb. Flury), die sich mit Tatkraft und Willensstärke für die Entstehung der Basler Kirchgemeinde verdient gemacht hat. Diese Tatkraft und geistliche Stärke hat insofern Spuren hinterlassen, als die erste Diakonin in der Basler Kirchgemeinde eine Urenkelin der erwähnten Frau Gebhardt ist!

Michael Bangert