Querdenken für die Zukunft

Weihnachts- und Neujahrsgrüsse 2020

«Nichts ist so beständig wie der Wandel». Diese verblüffend einfache Erkenntnis hat die Zeit überdauert: Sie stammt von Heraklit, der etwa 500 vor Christi in Ephesus gelebt und gewirkt hat.

Heraklit traute sich, «anders» zu denken und er teilte das seinen Mitbürgern mit. Er wollte zum Ausdruck bringen «…. dass wir Menschen verschiedenartige Einsichten in die Weltordnung annehmen und im Denken berücksichtigen sollen». Heraklits Ansichten aus der Frühantike haben wieder an Aktualität gewonnen, just in den vergangenen Monaten. Es ist doch so: Gerade die Pandemie und ihre noch nicht absehbaren Folgen lehrt uns, unsere Wahrnehmung breiter aufzustellen und im Denken zu berücksichtigen.

«Zuerst zählt der Kanton»
Wir erinnern uns: Im Frühjahr verfügte der Bundesrat einen sogenannten Lockdown. Wie es unserem föderalistischen System entspricht, delegierte der Bund einen Teil der Verantwortung für die Massnahmen gegen das Virus an die Kantone. Wir wissen es: Ende Oktober, nach dem wuchtigen Eintreffen der 2. Welle, wurde die Lage etwas unübersichtlich. Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen in den Kantonen unterscheiden sich die Schutzmassnahmen von Kanton zu Kanton. Das ist nicht verwunderlich. Der Schriftsteller und emeritierte Literaturprofessor Peter von Matt brachte es auf den Punkt: «Der Schweizer definiert sich zuerst über seinen Kanton». Von Matt will damit sagen, dass für viele Menschen nur die unmittelbare Umgebung zählt; alles andere ist oft etwas fremd. Daraus können wir Rückschlüsse ziehen: Wir sind alle mitbetroffen. Das Wohlergehen der Bevölkerung und – ganz wichtig – des Personals in unseren Pflegeeinrichtungen ist gleich hoch zu gewichten. Nicht nur wirtschaftliche Einbussen sind zu beklagen. Gelebte Solidarität gegenüber Mitbürgern und Behörden ist von zentraler Bedeutung, für unser Land und alle anderen Länder – und entspricht unserem christkatholischen Gedankengut. Wenden wir uns ab von indifferentem und individualistischem Denken und Handeln und verhalten uns stattdessen «partnerschaftlich». Gerne weise ich in diesem Zusammenhang auf den 1. Petrusbrief (2,17) an die Römer hin. Petrus sagt: Erweist allen Menschen Ehre, liebt Brüder und Schwestern, fürchtet Gott und ehrt den König!

Kreativität ist gefragt
Petrus will uns damit sagen, dass stets die gesamte Gemeinschaft in der Verantwortung steht. Wir sollten uns diese weisen Worte von Zeit zu Zeit vor Augen führen, auch und vor allem in unserer kirchlichen Gemeinschaft. Vor uns liegen viele Wochen, vielleicht Monate, mit vielen Herausforderungen. Aber es wäre wichtig, nicht nur eine Zukunft voller Unsicherheit und Ungewissheit zu beklagen, sondern konstruktiv und partnerschaftlich aufeinander zuzugehen, die Einheit anzustreben. Wir sollten uns Gedanken machen, wie wir unsere Weihnachtsfeiern in den Kirchen und im familiären Rahmen gestalten können. Wir wollen feiern, aber kreativ, vielleicht aussergewöhnlich, dabei uns selbst und andere schützen. Wenn wir uns hie und da zurücknehmen, bewusst abschalten, unsere Gedanken auf einen stillen Ort oder an eine schöne Begegnung mit Menschen richten, oder uns an das letzte Familienfest erinnern – und uns bereits auf das Nächste freuen, trifft uns alles nur halb so schlimm. Eine positive Erwartung und die Hoffnung verbessern unser Wohlbefinden. Erwartungen sind nicht dazu da, in Erfüllung zu gehen. Vielleicht gilt sogar das Gegenteil. Die schönsten Erwartungen sind die unerfüllten. Auch wenn die Erwartung nicht eintrifft, erfüllt sie einen wichtigen Zweck: Wer auf das Gute hofft, geht den Weg in die Zukunft mit Sinnen, die für das Gute offen sind.

Noch wissen wir nicht, wie sich die ausserordentliche Lage auf unser Zusammenleben auswirken wird. Aber ich bin überzeugt, Gelassenheit und der Glaube an eine wiederum gute Zukunft wird uns durch diese merkwürdige Zeit führen.

Fortschritt in Bescheidenheit
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam querdenken. Unter querdenken verstehe ich, ungewohnte Situationen anders, eben quer zu überdenken. Wir können uns bemühen, mit konstruktiven, vielleicht queren Ideen voranzugehen, zum Fortbestand und Wohlergehen unserer Kirche. Und wir müssen uns bewusst sein, dass wir nicht über andere Menschen bestimmen können. Aber wir können in bescheidenem Rahmen vorangehen.

Bischof und Synodalrat danken Ihnen herzlich für Ihre fortwährende, auf Gemeinsamkeit und Toleranz beruhende Unterstützung. Ich wünsche Ihnen von Herzen gesegnete und hoffnungsvolle Weihnachten, und im neuen Jahr die Gabe, die Unvollkommenheiten anzunehmen, das Schöne zu sehen und dadurch ein Jahr mit viel Freude und Zuversicht zu erleben.

Manuela Petraglio


Videobotschaft zu Weihnachten von Bischof Harald Rein und Synodalratspräsidentin Manuaela Petraglio