Unser Stern – Die Sonne

Kraft, Zuversicht, Erleuchtung und Zerstörung vereint

„Die Sonne geht am einen Ende des Himmels auf und läuft bis ans andere Ende; nichts kann sich vor ihrer Glut verbergen.“ Psalm 19,7

Die Erde im Sonnenschein, gesehen von der internationalen Raumstation ISS aus. Bild: NASA

In diesen Tagen erleben wir alle die Bedeutung dieses Bibeltextes von der glühenden Sommersonne nicht nur in der Sonnenstube: Auch die Häuser in den Städten des Nordens werden von Hitze durchflutet. Die einen warten auf diese Tage, um ans Meer zu gehen, um sich dort zu erholen und abwechselnd im Meer oder in der Sonne zu baden. Die anderen jedoch wollen der Hitze entfliehen und suchen die Natur und die Sonne auf den Gipfeln der Berge.

Sich in moderater Weise der Sonne auszusetzen, hilft unserem Körper, unseren Muskeln und Gelenken; es fördert die Produktion von Vitamin D und Serotonin, das unsere Stimmung hebt, den Schlaf, den Appetit und unsere Gefühle regelt, was dazu beiträgt, dass unsere Ängste weniger werden. Die Sonne mit ihrem Licht und ihrer Wärme hilft uns, Klarheit zu finden und bringt uns dazu, in unser Inneres zu blicken. Studien bestätigen, dass bei gutem Wetter sich bei allen die Stimmung hebt und sich so auch Gedächtnis und Kreativität verbessern.

Nichts ist wichtiger für uns auf unserem Planeten als die Sonne, die die Meere und Ozeane erwärmt und allen Lebewesen Energie gibt, besonders auch den Pflanzen, welche Nahrung und Sauerstoff dem Leben auf der Erde liefern.

Apropos Energie: Auf der Webseite der italienischen Radiotelevision der Schweiz (RSI) habe ich im Mai einen Artikel über die Jubiläumsfestlichkeiten des TISO-10 (Ticino Solare) gelesen, welches seit vierzig Jahren in Betrieb ist. Dieses wurde damals in Trevano Canobbio als erste Solaranlage an das europäische Netz angeschlossen. Der Artikel bestätigt, dass der Energiebedarf des gesamten Tessin mit Sonnenenergie gestillt werden könnte. Die Sorge vor der globalen Klimaerwärmung drängt tatsächlich dazu, auch im Transportwesen Lösungen abseits der fossilen Energieträger zu finden. In Zukunft werden Autos ausschliesslich durch die Sonne angetrieben: Diese gute Nachricht kommt von Studierenden der Technischen Universität Eindhoven in den Niederlanden. Sie haben schon zwei Autos entwickelt, welche mehr Energie produzieren können, als sie verbrauchen. Das eine kommt bald in den Handel.

Die Sonne ist die Hauptquelle allen Lebens auf unserem Planeten. Daher verwundert es nicht, dass in vielen Ländern und Kulturen seit Altersgedenken bis heute die Sonne verehrt und angebetet wird.

Im Shintoismus, der japanischen Staatsreligion, ist die Sonnengöttin Amaterasu für Gleichgewicht und Harmonie verantwortlich. Die Mythologie der japanischen Kaiserfamilie erzählt, dass die Göttin dieser Familie die drei heiligen Herrschaftsgaben (das heilige Schwert, den heiligen Spiegel und den heiligen Jadestein) überreicht habe. Aber schon in prähistorischer Zeit wurde die Sonne verehrt. Denken wir nur an die Megalithen (z.B. in Stonehenge), die so platziert wurden, dass sie das Sonnenjahr, vor allem die Sommersonnenwende, sichtbar machen. Auch der Tempel von Kukulkan, bekannt als „El Castillo“ in Chichen Itza in Yucatan, Mexiko, wurde nach dem Lauf der Sonne so konstruiert, dass neben Frühlings- und Herbstanfang auch die Sonnenwenden durch schlangenförmige Schatten angezeigt wurden.

In der Kultur des Alten Ägyptens war die Sonne das Herz der pharaonischen Theologie, vor allem durch die Sonnengottheiten Ra und Aton. Auch im antiken Rom breitete sich der Sonnenkult mit der Gottheit „Sol Indiges“ in der römischen Republik und dem „Sol Invictus“ während des zweiten und dritten Jahrhunderts aus. Eine wichtige Variante des Sonnenkults war der Mithraskult. Dieser Mysterienkult stammt aus dem zoroastrischen Persien und wurde durch Legionäre nach Rom gebracht. So feierten man in Rom den Sol Invictus, die Ägypter die Geburt des Horusknaben, die Indoperser den Mithras, die Syrer El Gabal und die Griechen Helios.

Eine koronare Masseneruption auf der Sonne im Dezember 2017. Foto: NASA GSFC

In Rom feierte man die Geburt der Sonne gleich nach der Wintersonnenwende. Schon ab 330 war es für Kaiser Konstantin wichtig, die immer zahlreicher werdenden Christen als Unterstützer zu gewinnen, um an die Macht zu kommen. Der Tag des Sol Invictus wurde zum Tag der Geburt Jesu, der Sonne der Gerechtigkeit, wie sie vom Propheten Maleachi prophezeit wurde. Auch war es Kaiser Konstantin, der den letzten Tag der Woche „dies solis“ – Sonn-tag – in „dies domini“ – Herrentag – umbenannte. Die Sprachen Nordeuropas wie das Deutsche oder Englische haben den Namen „Sonntag“ erhalten, die romanischen Sprachen sprechen vom „Herrentag“ – Domenica. Die Christen beteten in Richtung Osten zu „Christus, der aufgehenden Sonne“, und so bauten sie ihre Kirchen nach Osten ausgerichtet, sozusagen orientiert.

Auch wenn Maleachi, der letzte Prophet der griechischen Bibel, den Messias mit der Sonne der Gerechtigkeit verbindet, und auch wenn im Lukas-evangelium Zacharias vorhersagt, dass eine aufsteigende Sonne uns aus der Höhe besucht (Lukas 1,78-79), wird im Neuen Testament Christus eigentlich nie mit der Sonne assoziiert. Das Wort „Sonne“ erscheint 22mal, aber es wird nur zweimal als Vergleich mit dem Glanz des Antlitzes Jesu verwendet. Es war wohl der Sonnenkult, welcher in so vielen Ländern der Antike lebendig war, der besonders im Johannesevangelium zu dieser Symbolik des Lichtes geführt hat.

Im ersten Buch der Bibel ist auffällig, dass Licht und Sonne als zwei unterschiedliche Dinge geschildert werden: Während die Erschaffung des Lichts den Beginn der Schöpfung auszeichnet, („Gott sprach: ‚Es werde Licht!‘ und es ward Licht!“ Genesis 1,3), bildet die Sonne als eine der beiden grossen Leuchten lediglich ein Element der Schöpfung. Das Buch Genesis spricht in der Tat von den „beiden grossen Leuchten, die grössere, die über den Tag herrscht, die kleinere, die über die Nacht herrscht“ (1,16). Viele Lehrstücke des Talmuds handeln breit über diesen Vers. Wie Rashi in seinem Kommentar bekräftigt, erklären die Rabbiner, dass Sonne und Mond zunächst in gleicher Grösse erschaffen wurden. In unserer Tessiner Kirchgemeinde habe ich oft selbst diesen Ausschnitt und diesen Midrasch (Auslegung) aus der Sicht des Mondes kommentiert, welcher merkt, dass er nicht alleine, sondern zu zweit in der Welt ist und sich deshalb gerufen fühlt, Platz zu machen und sich auf Gottes Einladung zurücknimmt. Aber ich habe auch eine andere Auslegung gefunden, welche die Sicht der Sonne in Betracht nimmt. In diesem Kommentar weigert sich der Mond, seine Autorität mit einem anderen Wesen zu teilen. Im Gegensatz zum Mond akzeptiert jedoch die Sonne ihren Anteil an der Macht. Sie fühlt kein Ehrbedürfnis und stimmt demütig jeder Rolle zu, die von ihr verlangt wird, auch jener, ihre Macht zu teilen.

Demzufolge bedeutet, dem Beispiel der Sonne zu folgen, auf Ruhm und Ehre zu verzichten und sich nicht um den sozialen Rang zu kümmern: Wie die Sonne akzeptieren wir gerne, unsere vorgegebenen Rollen zu erfüllen, ohne dabei Ruhm, Anerkennung und Macht zu suchen. Dem Beispiel der Sonne zu folgen, bedeutet, sich nicht von anderen bedroht zu fühlen. Es bedeutet, sich seiner selbst sicher zu fühlen, unabhängig von verdienter oder unverdienter Anerkennung, und unabhängig davon, wie andere uns wahrnehmen. Der Mond erzeugt kein eigenes Licht und kann das Licht der Sonne nur reflektieren.

In gleicher Weise können viele Personen nicht aus sich heraus Erfüllung finden. Sie hängen von der Anerkennung und dem Respekt anderer ab, um zu „glänzen“ und Freude zu empfinden. Wer aber über eine gesunde Selbstwahrnehmung verfügt und bescheiden mit beiden Füssen auf der Erde steht, ist in der Lage, das eigene Licht auszustrahlen, sich sicher und zufrieden zu fühlen und davon unabhängig zu sein, wie einen die anderen sehen. Nur so kann man beständig Freude und Erfüllung erfahren und Vertrauen und Vitalität ausstrahlen. Die Gegenwart leben, in die man gerufen ist, in diesem Moment zu sein und die empfangene Lebenskraft zu teilen: Das ist alles, was es braucht!

In einem jüdischen Text kann man es so lesen: Ein Kind fragt den Meister, was man tun muss, um ganz gerecht zu sein. Die Antwort lautet: „Hat es die Sonne nötig, etwas zu tun? Sie geht auf, sie geht unter, erwärmt die Seele und macht sie fröhlich. Der Gerechte muss es ihr nur nachmachen.“

Elisabetta Tisi

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die Sonne auf meteoschweiz.ch