Zum Hinschied von Prof. em. Walter Frei

Vom schlichten Sagen des Glaubens

Am 2. April 2022, einige Tage nach seinem 95. Geburtstag, ist Walter Frei im Spital Langnau gestorben, wohin er wegen einer Covid-Infektion verlegt werden musste. Seit dem August 2018 lebte er zusammen mit seiner Frau Silvia zurückgezogen im Seniorenwohnheim der Stiftung Rotonda in Jegenstorf (BE). Damit ist das Leben eines Menschen an sein irdisches Ende gelangt, der dank seiner vielfältigen Begabungen mit seiner christkatholischen Kirche auf eine recht gebrochene Weise verbunden war. Eine Verabschiedung im kleinen Kreis, organisiert von dem mit ihm seit langem befreundeten Hansruedi Spichiger VDM, fand in der Rotonda statt.

Walter Frei wurde am 17. März 1927 in Luzern geboren. Nach bestandener Matura immatrikulierte er sich im Herbst 1947 an der damaligen Christkatholisch-theologischen Fakultät der Universität Bern. Dass die Studienwahl auf die Theologie fiel, wird auch mit seinem Ortspfarrer, dem mit seinen feinsinnigen Beiträgen in der Kirchenpresse bekannten Otto Gilg, zu tun gehabt haben. W. Frei schloss sein Studium nach acht Semestern in Bern und einem weiteren in Paris im Frühjahr 1952 ab; es folgte in Basel sein Lernvikariat und er wurde – am 8. Juni in Bern von Bischof Adolf Küry zum Priester geweiht – im Herbst Pfarrhelfer in der Kirchgemeinde Basel.
Diese Aufgabe war mit der Vereinbarung verbunden, dass ihm auch genügend Zeit für die Fertigstellung einer Dissertation eingeräumt werde; ihr Thema war schon mit einer früheren Arbeit gegeben, welche am Berner Dies academicus 1950 mit einem ersten Preis ausgezeichnet worden war. Der Titel der Ende 1954 abgeschlossenen und von den zwei vor dem baldigen Rücktritt stehenden vollamtlichen Professoren Ernst Gaugler und Arnold Gilg angenommenen Arbeit lautete: «Gnostische Lehre und johanneische Verkündigung. Ein exegetischer Beitrag zur Frage um die Entmythologisierung des Neuen Testamentes». Damit wurde er am 6. Juli 1956 zum Doktor der Theologie promoviert.

Das Ehepaar Frei

Ein Jahr später wurde er von der bernischen Regierung auf Vorschlag der Fakultät zum nebenamtlichen Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte ernannt; er folgte damit unmittelbar auf den altershalber zurückgetretenen Arnold Gilg, der neben «Kirchen- und Dogmengeschichte» allerdings auch noch das Fach «Lehre von der Seelsorge» unterrichtet hatte. Letzteres wurde zur selben Zeit neu von Urs Küry übernommen. Dieser musste nach der Wahl zum Bischof (1955) einerseits sein Pfarramt in Olten aufgeben, führte aber andererseits den Lehrauftrag «Systematische Theologie», den er zuvor als nebenamtlicher Professor wahrgenommen hatte, als vollamtlicher Professor weiter.

Dies muss W. Frei verletzt und eine spürbare Distanzierung gegenüber seiner Kirche begründet haben, wie sie meine Generation von christkatholischen Studierenden in seinen Lehrveranstaltungen gelegentlich, wenn auch ohne Aufklärung, mitbekommen hat. Warum verletzt? Frei hatte in Basel eine psychotherapeutische Lehranalyse gemacht und dabei entdeckt, wie wichtig Grundeinsichten der Schule von Sigmund Freud für eine kompetente Seelsorgepraxis von diesbezüglich oft ahnungslosen Pfarrern sein können. Nun, erst Jahre später, nach dem Rücktritt von Urs Küry als Professor, wurde ihm das Fach «Lehre der Seelsorge» übertragen, das er vom Wintersemester 1973/74 bis zu seiner Emeritierung als nebenamtlicher Professor im Frühling 1992 zusätzlich unterrichtete und in der Regel als einstündige pastoraltheologische Vorlesung mit Kolloquium konzipiert war. Von seinem Dienst als Pfarrhelfer in Basel war er schon im Herbst 1962 zurückgetreten. Zeitlich fällt dies mit dem Beginn der vollamtlichen Professur für Neues Testament, Homiletik und Katechetik von Kurt Stalder, dem früheren Pfarrer in Bern, zusammen.

Frei gehörte mit 30 Jahren zu den fünf jüngsten je an der Christkatholischen Fakultät berufenen Theologen. Er war aber vor allem derjenige, der in seinen Lehrveranstaltungen (jeweils am Dienstagnachmittag im Hörsaal 37) wohl am meisten durch ein eigenwilliges Profil auffiel. Diese waren nicht darauf ausgerichtet, dass man sich einen abgegrenzten und durchstrukturierten Wissensstoff aneignet, um dann Prüfungen bestehen zu können. Er wollte die Studis auf etwas Anderes hinweisen und im Blick auf ihre künftige Tätigkeit als Pfarrer daraufhin sensibilisieren, wie das, wovon die argumentativ vorgehende Theologie letztlich zu reden versuche, aus nichttheologischer Perspektive oft angemessener zur Sprache käme – «im schlichten Sagen des Glaubens», in «dem das Unverfügbare sich entbirgt», ohne zu einem vorhandenen geistigen Besitz zu werden. Hinter solchen Formulierungen steht natürlich der Philosoph Martin Heidegger, der mit seiner Sicht auf Sprache und Denken immer irgendwie präsent war (wie Sigmund Freud in den pastoraltheologischen Stunden). Ansatzpunkte für diesen Zugang konnten Gestalten aus der Christentumsgeschichte sein oder Themen wie «Das Bild bei Johannes von Damaskus und die Frage nach der Kunst», «Johann Sebastian Bachs Glaubensverständnis», Pascals «Pensées», Rilkes «Stundenbuch», die «Frage nach der Offenbarung in Werken der Künstler des ‹Blauen Reiters›», «Glauben im technischen Zeitalter» usw. Zum festen Stil seiner Vorlesungen gehörte auch, dass er, aufgrund von Fragen oder spontan, sein Manuskript beiseite legte, vom Katheder herabstieg und hin- und hergehend zu Exkursen ausholte, in denen er eine unglaubliche Belesenheit mit überraschenden Vertiefungen und witzigen Anekdoten an den Tag legte. Nicht zu vergessen ist, dass er die Lehrveranstaltung mit dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser eröffnete und mit einem Gebet, das einen zentralen Punkt der vorangegangenen Darlegungen aufgriff. In alledem ist es kein Wunder, dass es auch stets einen Kreis von evangelischen Studis gab, bei denen «der Frei» als Geheimtipp galt.

Es ist schwer vorstellbar, dass sich dieses Profil so geformt hätte, wäre W. Frei in den üblichen kirchlichen und ökumenischen Bahnen eines Universitätstheologen geblieben. Hier spielten vielmehr andere Schaffensgebiete eine bereichernde Rolle, auf die ich nur kurz eingehen kann.
Bei seinem Rücktritt vom Pfarramt in Basel machte er geltend, er wolle sich neben seinem Lehramt in Bern kirchenmusikalischen Studien widmen. In diese Richtung hatte er sich schon als Student in Bern bewegt, als er Orgel- und Gesangsunterricht am dortigen Konservatorium nahm. Damit begann bald eine Zusammenarbeit mit seiner mittlerweile auch in Bern wohnhaften zukünftigen Frau, Silvia Maria geb. Cantieni (notabene der Tochter seines Götti); sie hatte sich ihrerseits am selben Ort als Sopranistin ausbilden lassen. Das seit dem 1. November 1952 verheiratete Paar richtete sich auf die Erforschung und die stilgerechte Ausführung der Musik des Mittelalters und der Renaissance aus; das schloss das Erlernen von gut 15 längst aus dem Gebrauch gekommener Blas-, Streich-, Zupf- und Schlaginstrumenten ein, bei einigen sogar den eigenen Nachbau. Das Ergebnis manifestierte sich in Duo-Konzerten im In- und Ausland sowie in Schallplattenaufnahmen. W. Frei lehrte zudem von 1966-1993 Musikgeschichte am Konservatorium Biel. Um 1988 wurde diese Stadt (nach gut 30 Jahren Basel und etwa 6 Jahren Zürich) der neue Wohnort, und hier wurde er durch seine geistesgeschichtlich souveränen Einführungen zu Konzerten und Theateraufführungen einem weiteren Publikum bekannt.

Ein anderer Schwerpunkt war die Malerei. Der junge Frei hatte in Bern bei einer Ausstellung studentischer Kunst den ersten Preis gewonnen, und man hatte ihm bedeutet, er sei mit seinem Theologiestudium auf der falschen Fährte. So wurde ihm neben der Musik auch das Bild in wechselnden Formen ungegenständlicher Malerei wichtig. Er stellte seine Werke in Galerien im In- und Ausland aus, mit der Zeit nur noch zusammen mit Silvia, deren Bilder figürliche Miniaturen zur Welt der von ihnen gespielten Musik oder auch der Märchen sind.

Schliesslich sei von den vier im Verlag Raeber in Luzern erschienen Buchveröffentlichungen auf «Der Stubenhocker. Historischer Roman in abgekürztem Verfahren» (1976) verwiesen. Inhaltlich geht es um den mit der Person des Philosophen Descartes verbundenen Ursprungsort der heutigen technischen Welt. Das Buch, das innen und aussen vom Autor selbst künstlerisch durchgestaltet ist, erhielt von der «Accademia Italia» 1982 eine Ehrenurkunde zuerkannt.

Walter Frei hat allein oder zusammen mit Silvia auch jahrelange freundschaftliche Begleitung von Menschen erfahren, die über eine eher punktuell bleibende öffentliche Anerkennung hinausgeht, so wichtig diese für sie war. Es gibt aber auch schwer erklärbare Beispiele einer resoluten Aufkündigung von jeglichem früher selbstverständlichen Kontakt, sei es in der eigenen Familie von Walter oder mit christkatholischen Geistlichen, sei es mit dem Luzerner Verleger und Galeristen Bernard Raeber oder mit dem Film- und Fotomacher Momino Schiess: Dieser produzierte 1990 einen 54 Minuten langen Por-trätfilm, der in den Augen der beiden so etwas wie ein «Gesamtkunstwerk» ihrer vielseitigen Begabungen wurde. Er liegt als CD einer 2005 im Selbstverlag veröffentlichten «Dokumentation Silvia und Walter Frei» von 67 Seiten bei.

Eher verständlich ist die (nach 1957 bzw. 1962 zweite) Distanzierung von der christkatholischen Kirche im Zusammenhang mit Überlegungen, inwieweit eine von der Nationalsynode 1976 gutgeheissene Versuchsperiode, bei der W. Frei die Durchführung von (a) Pastoralkolloquien für Seelsorger und (b) Einzelberatung von Seelsorgern bei schwierigen Seelsorgefällen übertragen wurde und der Synodalrat für die Kosten aufkam, durch die Errichtung einer psychologischen Beratungsstelle zu beenden sei. Sie hätte zusätzlich vorgesehen, dass W. Frei (c) Hilfesuchenden, mit denen der zuständige Pfarrer überfordert gewesen wäre, mit eigener Analysearbeit hätte helfen können. Es zeigte sich aber, dass über die finanzielle Frage, die für ihn angesichts seiner wohl prekären Altersvorsorge durchaus von Belang war, keine realistische Einigung möglich war. Er zog sich im Februar 1985 von allen kirchlichen Aufgaben zurück – und dies trotz aller Bemühungen des mit ihm befreundeten Synodalrates Pfr. Alfred Jobin, der übrigens viele hier ungenannte Arbeiten Freis aus den Jahren 1971-1985 im verdienstvollen «Mitteilungsblatt der Christkatholischen Geistlichen der Schweiz» veröffentlicht hatte. So hat W. Frei nie mehr in christkatholischen Medien publiziert, und er hatte für eine Einladung der Studierenden, die mit ihm nach seiner Abschiedsvorlesung am 18. Februar 1992 zusammensitzen wollten, keine Zeit.

In den letzten Jahren wurde es um beide stiller. W. Frei setzte seine Skizzenbücher wie auch seine jahrzehntelange Sammlerleidenschaft fort, die ihn mit Silvia zu Flohmärkten und Antiquitätengeschäften führte; er schrieb täglich ein «Apropos» – und an Silvia einen Liebesbrief. Dies erfuhr gleichsam die halbe Schweiz dank der Photodokumentation «Zeitlose Liebe – Silvia und Walter Frei» von Rolf Neeser (Biel), die aus Anlass ihrer Eisernen Hochzeit am 1. November 2017 entstand und beim Swiss Press Award 2018 einen zweiten Preis gewann; Bilder daraus mit redaktionellen Begleittexten erschienen in verschiedenen deutsch- und französischsprachigen Tageszeitungen und in der Migros-Zeitung.

Zur sogenannten Gnadenhochzeit, die in diesem Jahr an Allerheiligen fällig geworden wäre, wird es nun nicht mehr kommen. Aber wir dürfen Walter Frei für seinen Gang zu Gott, dem unverfügbaren Geheimnis, um das es ihm immer wieder ging, das Wort mitgeben, mit dem Hansruedi Spichiger die Verabschiedung in der Rotonda einleitete: «Der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben» (Gen 24,56).

Urs von Arx