Wurzeln und Flügel

Zwei Dinge sollen Eltern ihren Kindern geben: «Wurzeln und Flügel,» befahl Goethe.

Das mit den Wurzeln haben wir hingekriegt. Und nun sind unseren beiden Söhnen auch Flügel gewachsen, mit denen sie aus dem Elternhaus ausgeflogen sind. Und Mama und Papa bleiben allein zurück und wissen nicht so recht, wie ihnen geschieht.

Wie oft habe ich mich über das Chaos im Haus und Kinderzimmer geärgert, über Wäscheberge, nicht entsorgten Müll, endlose Diskussionen über Schulnoten, Ausgehzeiten, Taschengeld. Ich habe alles organisiert und erledigt, was unsere Buben verplant, vergessen oder verkorkst haben.
All das soll plötzlich vorbei sein? Ich kann spontan morgens länger ausschlafen.

Ich kann ein Wochenende mit meinem Mann verreisen, ohne dass irgendetwas organisiert werden muss? Ich fasse es nicht! Die grosse Freiheit!
Aber wer drückt mich beim Nachhausekommen und sagt: «Alles klar, Mama?» Wer zwinkert mich mit grossen verschmitzten Augen an und fragt: «Machst du mir bitte einen Gefallen?» Wer diskutiert mit mir über Gerechtigkeit und darüber, was im Leben wirklich zählt? Und wem räume ich zukünftig die Sachen hinterher? «Du kannst dir ja wieder einen Dackel zulegen», empfiehlt mein Mann und befürchtet, ich könnte anfangen, an ihm herumzuerziehen.
Man trennt sich nicht vom Kind, sondern von der Selbstverständlichkeit der gemeinsamen Zeit.

Und für uns eröffnet es neue Chancen, neue Freiheiten. Wir werden sie furchtbar vermissen, unsere Söhne. Und hoffen, dass ihre Flügel sie tragen und ihre Wurzeln ihnen Halt geben für ein erfülltes, starkes und sinnvolles Leben.

Manuela Petraglio