Das Grösste ist die Liebe

Korinther 1,13: «Jetzt also bleiben Glaube – Hoffnung, Liebe – diese drei: Ihrer Grösstes aber ist die Liebe».

Was ist der Unterschied zwischen Toleranz und Nächstenliebe?

Breit akzeptierte gesellschaftliche Strukturen, die selten in Frage gestellt werden, nennt der Soziologe Peter L. Berger «Plausibilitätsstrukturen». 

Die Denkstrukturen unserer westlichen Gesellschaft sind deutlich von den Werten des Christentums geprägt. Toleranz ist eine solche Plausibilitätsstruktur, die von unserer Gesellschaft nicht in Frage gestellt wird. Menschen sowie deren Standpunkte und Sichtweisen zu tolerieren, wird von modernen gebildeten Menschen sozusagen erwartet. Seit dem Zweiten Weltkrieg tritt Toleranz berechtigterweise als Grundtugend in unserer Gesellschaft auf. Sie gilt im Kollektivgedächtnis als ebenbürtiger Ersatz der Nächstenliebe. «Wenn ich niemandem etwas zu Leid tue, bin ich tolerant.» Ist Toleranz aber ein Synonym für die Nächstenliebe, die uns Jesus als das grösste Gebot überliefert oder sollen wir lieber zwischen den beiden differenzieren?

Bestimmt akzeptierte Jesus alle Menschen und nahm ihre Anliegen auf. Nicht nur lehrte Jesus Toleranz, er lebte tolerant. Er nahm die kleinen Kinder zu sich, auch wenn es anderen lästig schien. Er baute Brücken zwischen den Juden und Samaritern, ohne zu richten, ohne Partei zu ergreifen. Steuereinnehmer und die Hasser der Steuereinnehmer, Prostituierte, Ehebrecherinnen und
Randständige fanden Akzeptanz und Heil bei Jesus. Pharisäer wurden ehrwürdig behandelt. Jesus war tolerant, ertrug aber nicht alles. «Wehe euch verblendeten Leitern, Schriftgelehrten und Pharisäern», sind von Jesus wiederholte Worte im Matthäus Evangelium (siehe Kapitel 23). Religiöse Heuchler tolerierte er nicht. Er liebte sie aber dennoch.

Nächstenliebe ist mehr als Toleranz. Das Wort Liebe im grössten Gebot, heisst auf Griechisch ἀγαπήσεις (agapäseis). Das Agape-Liebesgebot (Mk 12,30-33) beginnt mit Liebe. Wir sollen Gott mit ganzem Herzen, Seele, Verstand und all unserer Kraft lieben. Das ist mehr, als Gott zu tolerieren. In diesem Text, aber auch im Alten Testament (Deut 6,5), kommt Gottesliebe zuerst. Gottesliebe und Selbstliebe sind Grundvoraussetzungen des Gebots der Nächstenliebe. Agape, wie Jesus es in Markus braucht, wird in der Bibel
33 Mal in Texten verwendet, in denen Menschen von hohem Rang vorkommen. Diese Liebe drückt Pflicht, Respekt und Ehrfurcht aus. Zu lieben bedeutet also, jemandem Hochachtung zu schenken und diesem in Treue zu dienen. Nächstenliebe heisst, die Ande-
ren zu ehren und für sie zu sorgen. Diese Liebe ist eine Herzenseinstellung, ausgedrückt durch Taten. Ich soll Gott, mich selbst und andere mit Ehre behandeln. Mit allen drei Personen – Gott, mir und dem Anderen – muss ich einen fürsorglichen Umgang pflegen. Das ist das höchste Gebot. Toleranz ist demgegenüber «nur» eine Tugend im Umgang, ein Bestandteil dieser Liebe, die eingeübt werden kann. Nächstenliebe als ganzheitliche Liebe für Gott, sich selbst und unseren Nächsten ist keine Plausibilitätsstruktur der säkularen westlichen Gesellschaft mehr, aber vielleicht bringt uns Toleranz als Tugend, der Nächstenliebe wieder etwas näher.

Dr. Rebecca Giselbrecht

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