«Wir wünschen Euch Streit»

Wie oft habe ich mich in Diskussionen stumm verhalten, liess andere reden, suchte Harmonie … bloss keinen Streit – dem Frieden zu liebe. «Bei uns streitet man nicht», sagte mir die Mutter einer Bekannten. Schade eigentlich, denke ich heute. Manches Missverständnis hätte sich aufklären lassen, vieles wäre nicht unter den Teppich gekehrt worden. Wie oft war dieses hehre Argument nur der Freipass, einem Problem aus dem Weg zu gehen! Bei einer Hochzeitsfeier haben die Freunde des Brautpaares Fürbitten formuliert, eine davon war überraschend: «Wir wünschen Euch Streit, den Streit der Euch fordert, und den Streit, der Euch fördert, den Streit der Euch ent-täuscht, und den Streit, der Euch auf-klärt, den Streit um Nähe und den Streit um Distanz.»

Zugegeben, sich Streit wünschen, wirkt befremdlich. Es ist aber nicht der Streit um jeden Preis gemeint oder das sich gegenseitige Aufschaukeln bis zur Explosion. Nein, es ist ein Streiten gemeint, wo das berechnende Abwägen von Geben und Nehmen nicht mehr zählt, wo wir einander nichts vormachen müssen, wo Gerechtigkeit, Mitgefühl, Fairness, Ehrlichkeit und Solidarität zum Boden der Auseinandersetzung geworden ist. Streiten ist ein Ringen um den «Frieden» – dem Frieden «nachzujagen» (Psalm 34, 15). Im hebräischen Wort für Frieden, Schalom, kommt diese suchende Bewegung zum Ausdruck. Sie zeigt sich im Miteinander statt im Gegeneinander, im Kompromiss statt im Sieg. In diesem Sinne geht es beim Frieden um ein konstruktives Streiten. Haben wir Mut, zu streiten, denn gut gestritten, ist halb Frieden geschlossen! SCHALOM!

Niklas Raggenbass