Nehmen und geben lassen

Wer einen jener Geringen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt darum, dass er mein Jünger ist, wahrlich, ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnt bleiben. Mt 10, 42

Anrede am Bahnhof: «Hei, hesch mer zweu Stutz?» Warum sollte ich dem Mann zwei Franken geben? Würde er arbeiten, müsste er nicht betteln. Andererseits: In seiner Lage möchte ich mein Leben nicht verbringen müssen. Also soll er seine zwei Stutz haben. Vielleicht noch zwei drüber hinaus. Dann ist die Sache erledigt, jeder geht seines Weges. Ich habe mich des Mannes erbarmt, quasi, mit mehr als einem Becher kalten Wassers. Und jetzt ist die Szene vorüber, der Mann geht weiter, ich ebenfalls. Aber jetzt sollte doch eigentlich die Belohnung folgen. Aber sie kommt nicht. Was könnte ich denn erwarten? Ich weiss es nicht.

Es gilt daher wohl, auf eine andere Ebene zu wechseln. Zum inneren Bettler, in Form etwa von unliebsamen Erinnerungen, erlittenen Demütigungen, schmerzhaftem Hohn und Spott. Vielleicht können wir ihnen ab und zu zweu Stutz geben, etwa als Schimpftiraden gegen allerlei Schuldige an unserem Elend. Und dann kommen wieder andere Probleme hoch, Alltägliches, unbedingt zu Erledigendes. Der «Bettler» zieht sich zurück. Er hat seine zweu Stutz. Bis zum nächsten Mal.

Aber es könnte ein «Bettler» kommen, der sich mit zweu Stutz nicht abspeisen lässt. Er ergreift Besitz von unserer Person. Wir kommen nicht umhin, uns ihm zu stellen. In schmerzhaftem, mitunter langem Prozess. Auf zweu Stutz geht er nicht ein. Nicht mehr.

Aber einmal, vielleicht eher später als früher, verliert der «Bettler» dennoch an Einfluss. Und vielleicht kann ich dann auch einmal erkennen, dass es Gott gewesen sein könnte, der an mir gewirkt hat. Nicht so freilich, wie ich es gerne gehabt hätte, wie es einfacher gewesen wäre. Dafür aber nachhaltiger.

Niklaus Reinhart