Menschen am Rande im Mittelpunkt

Festlicher Auftakt zum Jubliäum mit einem Gastmahl in der Predigerkirche.

90 Menschen, mit denen es das Leben nicht so gut gemeint hat, kamen zum Gastmahl zum Auftakt des 750-Jahr-Jubiläums der Predigerkirche: bedient von Gemeindemitgliedern, gekocht hat das Restaurant Baslerhof.

Entsprechend dem Charakter der Predigerkirche als Sakralbau eines Bettelordens (Dominikaner), der im Kirchenschiff einst Menschen, die vor der Stadtmauer hausten, mit Essen versorgten, lud die Christkatholische Kirchgemeinde Basel-Stadt Randständige zum Festmahl.

Ihre starken Eindrücke im Austausch mit den Geladenen schildert im Folgenden Gertrud Stiehle, die sich als Gastgeberin ganz den Menschen am Rande widmen konnte: 

«Ich bin noch voll unter dem Eindruck des Erlebten am 1. Januar in unserer Predigerkirche. Wegen meiner Gehbehinderung durfte ich mich ja als «freiwillige Helferin» einfach unter die Gäste setzen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Davon will ich ein paar Blitzlichter weitergeben.

Vom Leben gezeichnet

An der Kirchentür habe ich als eine der ersten Gäste eine kleine, nach vorn gebeugte Frau empfangen. Sie wählt sich zuunterst links aussen den hintersten Platz aus, «nahe bei den brennenden Kerzen». Von einer Säule hole ich ihr als erstes ein brennendes Teelichtlein  neben ihr Glas. Sie strahlt und beginnt gleich aus ihrem unglaublich schweren Leben zu erzählen. 

Schon als Kind hat sie viel Gewalt und sexuellen Missbrauch/Vergewaltigung durch ihren Vater erlebt und das zieht sich durch ihr ganzes Leben. Eine weitere Vergewaltigung führt zu einer abgebrochenen Schwangerschaft. Später, in der Psychiatrie, wird sie wiederum vergewaltigt, bekommt einen Sohn, der daneben gerät und sie um ihr letztes Geld gebracht hat. 

Von jahrelangen Gewaltsituationen und Krankheiten ist ihr Körper vielfach geschunden, verkrümmt. Sie zählt vieles auf, das sich bei der Lektüre eines von mehreren Arztgutachten, die sie zerknittert in der Handtasche mit sich trägt, voll bestätigt. Aber ihr klarer Blick unter der tief nach unten gebeugten Stirn zeigt: Das ist eine kämpferische Frau, die nie aufgibt, aber sich für ihr Recht bei allen Institutionen meist vergebens wehrt. Sie hat auch ein grosses Herz für andere, denen es schlechter geht, und bietet ihre Hilfe an, sogar mir, weil sie mich humpeln sah, und der anderen alten  Dame zu meiner Rechten.  Sie habe eine Ausbildung in Palliativpflege gemacht und betreue privat alte Menschen.

Diese etwa 80-jährige Tischnachbarin, dick vermummelt in vier Lagen Pul­lover und Strickjacken, ist ebenfalls sehr offen und gesprächig. Sie lese immer das gleiche Buch und fange von vorne wieder an, wenn sie hinten fertig sei. Es sei eine Franziskus-Biografie. Sie sei fasziniert von seinem radikalen Einsatz für die Armen und Ausgesetzten. Er habe authentisch und  glaubwürdig nach dem Evangelium gelebt. Dann schaut sie mich an und sagt: 

«Was Ihr hier in der Kirche heute mit uns tut, finde ich auch ein wunderbar glaubwürdiges Zeugnis als Christen.»

Ein recht tiefes Gespräch über Kirchen und Papst Franziskus schliesst sich an, an dem auch unser anderes Gegenüber, A. aus dem Bündnerland, ziemlich schwer verständlich aber lebhaft teilnimmt, hinter seinem zottigen Schnauz und riesigen weissen Vollbart und verstecktem Haarschopf unter einer schwarzen Kappe. 

Er scheint aus gutem Haus zu kommen, hat eine katholische Inernatsschule besucht und etwas Richtung Archäologie studiert, auch an Grabungen in den Bergen teilgenommen. Eigentlich wollte er Arzt werden, aber was das Leben dann mit ihm gemacht hat, bis er so heruntergekommen existieren musste, hat er nicht gesagt oder ich habe ihn nicht gut verstanden. 

Er wohnt in einem einfachen Hotelzimmer mit seinen 450 Büchern, von denen er sich nicht trennen, die er aber wegen Konzentrationsmangel nicht mehr lesen kann. Er isst täglich in der Gassenküche, ist sehr liebenswürdig, dankbar und strahlt eine grosse Zufriedenheit aus.

Unerwartete Hilfe erhalten

Die rechte Tischnachbarin gibt auch etwas von ihrer Geschichte preis. Sie lebt noch im eigenen Haus in Oberdornach, weshalb sie keinerlei Unterstützung bekommt zu ihrer Minimalrente von 1000 Franken. Sie kann die Zentralheizung nicht mehr betreiben (und damit auch niemanden mehr im Haus aufnehmen). Jetzt haust sie im kleinsten Zimmer mit einem Elektroöfeli. Aber sie will unbedingt ihre Unabhängigkeit und Freiheit bewahren  und nicht in eine Alterssiedlung oder ein Heim wechseln. Sie sucht dringend Hilfe fürs Schwere, denn sie ist von heftiger Polyarthrose geplagt und wohnt oben am Berg weit weg von der Busstation.

Heute am Tisch bekommt sie prompt ein Angebot ihrer Tischnachbarin. Hoffentlich klappt’s. Sie ist eine geistreiche, originelle Frau mit gutem Appetit. Sie hat keinen einzigen Zahn mehr im Mund, aber nun auch noch Lust auf Gemüse, das bei ihrem Vis-à-vis reichlich auf dem Teller liegt. Auch das bekommt sie noch, aber dann schiebt sie den Gemüseteller zwischen uns und bietet mir an, mit mir zu teilen. Ich könne die knackigen Rübli und Kohlräbli haben, die sie nicht beissen könne. Dann kriegt sie auch noch eine zweite Portion Ravioli und futtert genüsslich. Den zum Malen schönen Dessertteller geniessen wir alle Vier ganz andächtig.

Es war alles sehr berührend und warm und liebevoll, auch wenn die Kühle des Kirchenschiffs langsam durch die Kleider kroch. Ein Teilen von Menschlichkeit.»

Gertrud Stiehle