Bäuerin, Pfarrerin und Mutter – Grenzgängerin Anna Maria Kaufmann

Jeder meiner «Berufe» ist nur zusammen mit den anderen möglich

Für Anna Maria Kaufmann ist es ein wichtiger Markstein: «Ich darf nicht predigen und ein ganz anderes Leben führen. Wenn ich anderen etwa predige, man solle mehr auf sein Herz hören und danach handeln, muss ich dies auch in meinem eigenen Leben tun.» Foto: Reto Camenisch

Als ich mich mit Pfarrerin Anna Maria Kaufmann zum Interview verabredete, haben wir uns zunächst in St. Imier getroffen. Sie holte mich in der alten Uhrmacherstadt ab und wir fuhren zum Bauernhof Le Bas-Monsieur. Zunächst entlang der Bahnlinie Richtung La Chaux de Fonds, doch dann ging es rechts ab entlang vieler Windungen und Kurven tief in den Jura hinein auf 1000 Metern Höhe. Ein Gutsbetrieb, der mit seinen romantisch wirkenden, alten Häusern viele Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählen kann.

Ehemann François empfängt uns und ich erahne, wie die Aufgaben im Garten, auf den Weiden mit all den Gerätschaften und den Kühen das Leben der Pfarrerin geprägt haben. Wenn ich Pfarrerin Kaufmann in der Kirche Peter und Paul in Bern von der Natur, vom Klimawandel oder von Tieren predigen höre und sie sagt, wir sollten aus dem Herzen handeln, dann spüre ich, dass nichts gekünstelt ist und sie genau weiss, wovon sie spricht. Ihr Leben hat sie gezeichnet. Ich wusste, dass Anna Maria am 28 April 1960 im Spital Liestal geboren wurde, doch wie ging es in ihrem Leben weiter, wie wurde sie Bäuerin, Pfarrerin und Mutter, aber auch: Was heisst «christkatholisch» für sie?

Niklas Raggenbass: Sag, wo bist Du denn aufgewachsen?
Anna Maria Kaufmann: Meine Eltern lebten zunächst in Kaiseraugst, wo mein Vater, Gottfried Konrad, Pfarrer war. 1961 wurde er Pfarrer in Luzern und ich erlebte in der Zentralschweiz einen wichtigen Teil der Schulzeit und der christkatholischen Jugendbewegung. Als ich 16 war, wurde mein Vater Pfarrer in Zürich. Ich konnte dort die Schule mit der Matura abschliessen. Noch in der Schulzeit nahm ich die Gelegenheit wahr, im Jura französisch zu lernen und traf dort meinen zukünftigen Mann, François Kaufmann. Als ich 17 war, trat für mich die Kirche in den Hintergrund. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich einmal das machen würde wie mein Vater, wäre meine Antwort gewesen: «Goht’s no!?» Ich habe dann Zürich verlassen. Die Zeit der Opernhauskravalle war für mich nicht so einfach. Ich sah mich nicht auf der Strasse mit «Psetzistei» in der Hand, trotz Solidarität mit der Jugendbewegung.

Du standest zwischen Pfarrhaus und Jugendkravallen: War das ein Balanceakt?
Ein wichtiger Aspekt in meinem Leben ist, dass ich immer irgendwo eine Grenzgängerin war: Zwischen Stadt und Land, zwischen deutsch und französisch, Geistlichen und Laien, Männerdomänen und Frauendomänen. Ich bin von der Stadt aufs Land gezogen und habe die landwirtschaftliche Schule in Cernier im Kanton Neuenburg mit Diplom abgeschlossen. Dann arbeitete ich noch auf einem anderen Hof und habe 1985 François, meinen christkatholischen Mann, geheiratet. Wir bewirtschafteten gemeinsam den Hof Le Bas – Monsieur in La Cibourg im Kanton Neuenburg, das zur politischen Gemeinde und Kirchgemeinde La-Chaux-de-Fonds gehört. Etwa 10 Jahre haben wir den Milchwirtschaftsbetrieb geführt und dazu sind wir mit 3 Kindern eine Familie geworden.

Was ist nach diesen 10 Jahren passiert?
François hat den Bio- Betrieb weitergeführt und er «buret» noch heute, jetzt, indem er das Jungvieh eines Nachbarn aufzieht und Bio-Getreide kultiviert. Es ist wie die «Alp», aber das ganze Jahr. Ich meinerseits hatte in La-Chaux-de-Fonds begonnen, daneben als Katechetin zu arbeiten. 1995 fing ich dann in Bern das Theologie-Studium an. Bis dann war es noch ein längerer Weg. Zunächst machte ich eine Ausbildung als Katechetin, womit der «Appetit nach Seelsorge» wuchs. Ich wusste, dass ich mich in der Kirche mehr engagieren wollte.

Gab es zum kirchlichen Engagement einen Grund?
Ich hatte in der Kirche gute Erfahrungen gemacht. Das offene Pfarrhaus meiner Eltern hat mich geprägt. Ich war auch stolz, christkatholisch zu sein. Nun kam der Aspekt dazu, dass ich von all dem Positiven, das mir geschenkt wurde, wieder etwas zurückgeben wollte.

Wie kam es zur Priesterweihe?
Nach einem Altkatholikenkongress (in Delft) gab es ein Berufungserlebnis, das einer längeren Krise ein Ende setzte. Ich bin zuerst zu Bischof Hans Gerny gegangen, und der sagte vorerst, dass jede und jeder Theologie studieren könne, was aber noch nichts über ein Engagement in der Kirche besage. Als ich 1995 zu studieren begonnen habe, war Frauenordination noch längstens nicht beschlossene Sache. Aber für mich war es innerlich klar. Das Studium hat mich dann 10 Jahre gekostet.

Warum 10 Jahre? Geht das Theologiestudium so lange?
Von unseren drei Kindern war der jüngste grad in die Schule gekommen, so dass ich nicht vollzeitlich studieren konnte. Dann kam ein Vikariat von damals einem Jahr – 6 Monate in Möhlin und 6 Monate in Biel. Während meiner Ausbildung wurde die Frauenordination beschlossen, wobei es natürlich schon lange Diakoninnen gab. Schon mit 26 Jahren bin ich Delegierte an der Synode geworden und kenne «den Laden synodemässig schon sehr lang». Das Thema «Frauenpriestertum» hatte mich zunächst gar nicht besonders interessiert, obwohl mein Vater sehr engagiert dafür war. Berufung und das Miterleben des Entscheidungsprozesses der Synode änderten das dann. Nach der zweiten Lesung an der Nationalsynode 1999 ist die Frauenordination beschlossen worden. Im Jahr 2000 ist dann Denise Wyss als erste Frau zur Priesterin geweiht worden. Ich bin 2004 in Rheinfelden zur Diakonin und 2005 in La Chaux-de-Fonds durch Bischof Fritz-René Müller zur Priesterin geweiht worden. Das war für die Romandie etwas wirklich Neues. In La Chaux-de-Fonds war meine erste Pfarrstelle und ich blieb 8 Jahre dort. Bischof Fritz-René Müller setzte sich dafür ein, dass ich diese Stelle erhalten habe, denn nicht alle Gemeindemitglieder waren für eine Frau als Pfarrerin.

Pfarrerin Kaufmann hat sich schon vor ihrem Studium dafür eingesetzt, dass in der Kirche Neues entstehen kann und unsere Traditionen sinnvoll belebt werden. Dabei sieht sie es als eine besondere Aufgabe des Bistums an, aus den verschiedenen Regionen der Schweiz zu sammeln und zusammenzubringen. Foto: Reto Camenisch

Was ist für Dich das christkatholische Milieu?
Dazu mache ich eine Klammer, die zeigt, wie «Fügungen» so sein können. Mein Vater ist in Österreich auf einem Gutshof aufgewachsen. Der Grossvater, der Schweizer und auch christkatholisch war, amtete dort als Verwalter. Sie sind in die Schweiz zurückgekommen mit dem Ziel, einen Bauernhof zu kaufen und sich in der Schweiz zu etablieren. Mein Vater ist zur landwirtschaftlichen Ausbildung an unseren Hof in den Jura gekommen, damals vom Grossvater von François betrieben, und hat zwei Jahre bei der Familie Kaufmann gearbeitet und gelebt. Er besuchte, wie ich später, die landwirtschaftliche Schule in Cernier. Die Adresse des Hofes hat er von einem Mitglied der Zürcher Kirchgemeinde bekommen. Doch als er noch auf dem Hof war, machte mein Vater einen Schwenk, brach die landwirtschaftliche Schule ab, holte die Matura nach, begann in Bern Theologie zu studieren und wurde Pfarrer. Wir witzeln manchmal, unsere gleichaltrigen Väter hätten damals ausgemacht, dass ihre Kinder zusammenkommen. Mein Vater lernte während des Studiums im Kirchenchor in Bern meine Mutter, Margrit Riette kennen, deren Vater in Bern Kirchgemeindepräsident war. Also «la totale». Mein Leben hat sich immer innerhalb der christkatholischen Kirche abgespielt.

Grenzgängerin auch in der Ehe?
Damit ich in Bern arbeiten konnte, habe ich in Bern eine Dienstwohnung für Teile der Woche bezogen, was viel hin- und herfahren bedeutete. Das ging auf Kosten des Privatlebens. Ich war wohl auch da eine Grenzgängerin, gerade was konventionelle Rollenverteilungen im eher konservativen landwirtschaftlichen Milieu betrifft. Einfach war das nicht immer, und Rollenkonflikte erlebte ich auch als Pfarrerin. Galt es, als Frau zu beweisen, dass man auch die Pfarrerrolle ausfüllen kann? Oder war es wichtiger, das weibliche Element hinein zu bringen und damit das Rollenbild zu bewegen? Aus heutiger Sicht hat es mich einige Energie gekostet, zwischen Anpassung und «mich-selber-sein» gangbare Wege zu finden.

Wie ist denn das Leben in der Kirchgemeinde Bern?
In Bern habe ich gespürt, dass es auch in der Kirchgemeinde eine Art Röstigraben gibt. Die Alteingesessenen, die schon immer hier waren und mit all ihren Diensten das Leben in der Gemeinde geprägt haben, wie im Männerverein oder Frauenverein. Und dann waren da die Jüngeren und die Leute, die neu dazu kamen, die ganz andere Erwartungen an die Kirchgemeinde hatten. Das ging nicht immer reibungslos zusammen. Ich sah es als eine meiner Aufgaben an, Grenzmauern abbauen zu helfen.

Wie kannst Du Dir Zeit für die Menschen nehmen?
In La-Chaux-de-Fonds war alles viel näher zusammen für mich. Es gab mehr ein Gefühl, in «meiner» Kirche zu sein. Seelsorgerin und Pfarrerin sein, hiess für mich immer, bei den Leuten sein. Pfarrerin ist ein wundervoller Beruf. Hausbesuche sind in der Stadt aber viel schwieriger geworden. Ich habe immer darunter gelitten, dass ich mir zu wenig Zeit für Besuche nahm. Das Administrative, das wichtiger geworden ist, nimmt viel Platz ein. Sich für die Menschen Zeit nehmen, ist für mich immer an oberster Stelle der Seelsorge geblieben.

Was ist Dein Stil im Pfarrerinsein?
Ich habe versucht, mehr pragmatisch als strategisch, all dem was kommt, Raum zu geben und zu schauen, dass es menschlich aufgeht. Es war erstaunlich, was alles möglich war, auch wenn es zunächst nach «keine Zeit» aussah. Ich bin nicht jemand, die gerne Vorträge organisiert. Mir war eher wichtig, bei einer spirituellen Retraite einander menschlich und mit Herz zu begegnen, denn das haben wir heute manchmal wie wegrationalisiert. Alle scheinen unter Druck: Leisten, leisten und nochmal leisten ist die Devise, aber das Leben geht so in eine falsche Richtung für die Seele. Hier versuchte ich oft, dem mit Verlangsamen etwas entgegenzuwirken.

Was bringst Du von Bern nach La Chaux de Fonds wieder nach Hause?
Die Pfarrerrolle hat mich ab und zu behindert. Heute habe ich den Wunsch, wieder spontaner mich selber sein zu dürfen. Ich fühle mich befreit, wenn ich all das Administrative loslassen kann. Die Sachen, welche die Gemeinde zusammenhalten, sind die, die von den Gemeindemitgliedern mitgetragen werden. Von solchen Projekten und Prozessen fühle ich mich sehr bereichert, ebenso von den vielen freundschaftlichen Kontakten. Im Kennenlernen von Menschen, denen ich zuhören und weiterhelfen konnte, habe ich viel mit auf den Weg bekommen. Die Zusammenarbeit, die Kolleginnen und Kollegen des Seelsorgeteams, mit denen ich während der 11 Jahre in Bern Schwieriges und Gelingendes durchtragen konnte, haben mein Leben bereichert. Dankbar nehme ich unser Zusammenwirken im Herzen mit.

Wenn Du zurückschaust auf Dein christkatholisches Engagement…
Was war Dir besonders wichtig?

Ich habe den Eindruck, ich konnte in unserer Kirche dazu beitragen, dass die Frauenordination quasi als normal gesehen wurde. Vielleicht half es dabei, dass ich aus dem christkatholischen «Urgestein» komme, im Sinne von: Wenn die Anna Maria, aus eigenen Reihen, das macht, kann man es akzeptieren. Das war ein Beitrag, den ich für unsere Kirche leistete.

Du wirst mit François zusammen wieder den Hof bewirtschaften?
Ich möchte mich auch weiter in der Kirche einbringen, aber nicht mehr nur. Und zuhause möchte ich den lange brach liegenden Garten wieder zum Blühen bringen. Als wir zusammen mit «Buure» begonnen haben, hatten wir einen grossen Selbstversorgungsgarten. Der Garten fehlte mir während meiner Zeit als Pfarrerin. Heute werde ich nicht nur nach biologischen Richtlinien gehen, sondern mit Permakultur experimentieren, was sehr spannend ist.

Und die Beziehung zu Gott?
In der Zeit als Pfarrerin habe ich oft damit gehadert, dass ich mir viel zu wenig qualitative Zeit für mein persönliches Gebet nahm. Corona hat hier unterstützend gewirkt und geholfen, neue Prioritäten zu setzen, die ich mir nicht mehr nehmen lasse. Es hat sich dadurch auch einiges verändert. Vom Predigtseminar ist mir die Aussage geblieben, dass man immer als erstes sich selber predige, das hat sich oft bewahrheitet und liess mich über mich selber schmunzeln. Dass man Gottes Liebe nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft, sondern im Hier und jetzt begegnet und erfährt, habe ich wohl manches Mal in verschiedenen Varianten in der Predigt formuliert. Ob dieses Hier und jetzt im Ruhestand noch etwas mehr Raum bekommen kann, freue ich mich, herauszufinden.

Niklas Raggenbass