Landeshymnen, Nationalhymnen

«Eine Landes- oder Nationalhymne ist ein Lied, welches Eigenart und Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation textlich und musikalisch repräsentieren soll, v. a. bei patriotischen Feiern, im Einflussbereich der diplomatischen Vertretungen, bei Staatsempfängen sowie militärischen und internationalen sportlichen Anlässen. Während der Begriff Landeshymne in Deutschland und Österreich v. a. für die Hymnen einzelner Bundesländer verwendet wird, bezeichnet er in der Schweiz offiziell die Nationalhymne. Neben der Landeshymne gibt es eine grosse Zahl von Orts-, Regional- und Kantonsliedern, die indes keinen offiziellen Status haben.»
(aus Ernst Lichtenhahn: «Landeshymne», in: Historisches Lexikon der Schweiz HLS)

Nationalhymnen

«Die Freiheit führt das Volk»; Eugène Delacroix, 1830; Öl auf Leinwand, 260 × 325 cm, Louvre. Foto: Wikipedia

Mit der Bildung der Nationalstaaten kamen die frühen «Nationalhymnen» im modernen Sinne auf. Sie wurden aus bereits existierenden musikalischen Vorlagen (etwa Chansons, Tänzen, häufig Kirchenliedern) durch Neu- oder Umtextierungen geschaffen. Die nachweislich älteste davon, die niederländische «Wilhelm von Nassauwe» aus dem 16. Jahrhundert, geht vermutlich auf eine französische Chasse (Jagdstück) zurück. Die Nassauer-Hymne verbreitete sich über halb Europa, mündlich und dann auch gedruckt; in der Eidgenossenschaft kam sie unter anderem als Tellenlied im Bauernkrieg von 1653 zum Zug.

Offizielle Nationalhymne der Niederlande wurde die Nassauer-Hymne übrigens erst 1932. Wie bitter für das niederländische Volk, dass auch die Nazis ihre Melodie vereinnahmten und als Weihelied der SS beim Fahneneid auf den Führer benutzten!

Noch bekannter als die niederländische wurde die britische Hymne «God save our gracious King (Queen)». Ihr Ursprung liegt im Dunkeln, sie ist ein Kriegsprodukt und Triumphlied auf einen siegreichen Monarchen des 17. oder 18. Jahrhunderts. Später diente sie als «Heil dir im Siegeskranz» dem Königreich Preussen und ab 1871 bis 1918 dem Deutschen Reich als Nationalhymne.

Auch die Schweiz entlieh sich die britische Melodie. Mit dem vom Berner Johann Rudolf Wyss 1811 verfassten Text wurde das Lied häufig zu offiziellen Anlässen gesungen, allerdings nie als offiziell sanktionierte Hymne. Alle Strophen von «Rufst du mein Vaterland» zeugen von einer uns heute sehr fremd anmutenden Opferbereitschaft, wenn es etwa heisst: «Vaterland, ewig frei, sei unser Feldgeschrei, Sieg oder Tod! Frei lebt, wer sterben kann, frei, wer die Heldenbahn steigt als ein Tell hinan. Mit uns der Gott!»

Das Lied hielt sich trotzdem bis spät ins 20. Jahrhundert. Dass es dann endlich abgelöst wurde, hatte einen ganz anderen Grund: Wenn bei den vermehrt auftretenden internationalen Kontakten und beim Sport (Fussballländerspiele) die Schweiz auf England traf, musste das Orchester bei den Präliminarien zweimal dieselbe Melodie spielen, was der Identitätsfindung natürlich nicht gerade förderlich war – niemand wusste, wann denn seine Hymne ertönte!

Es war Zeit für eine eigenständige, schweizerische Nationalhymne, den Schweizerpsalm.

Schweizerpsalm

Alles Wissenswerte über den Schweizerpsalm ist auf Wikipedia zusammengefasst. Für diejenigen, die jetzt nicht zum Computer greifen wollen, hier eine Kurzfassung: Alberich Zwyssig, ein Zisterziensermönch des Klosters Wettingen, unterlegte seinem Messgesang «Diligam te Domine», «Ich will dich lieben, Herr» einen leicht veränderten Text von Leonhard Widmer aus dem Jahr 1840 (zwar eher schlecht als recht, wenn man auf die Silbenbetonungen achtet). Aber: Die neue Melodie erfreute sich schon bald grosser Beliebtheit. 1965 wurde das Lied provisorisch und 1981 definitiv zur offiziellen Landeshymne.

Ernsthafte Bestrebungen, eine neue, zeitgemässe Hymne zu finden, begannen mit der Motion der Berner Nationalrätin Margret Kiener Nellen 2004.
Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft etwa schlug auf die bestehende Melodie folgenden Text vor, der sich eng an die Präambel der Bundesverfassung lehnt:

Weisses Kreuz auf rotem Grund,
unser Zeichen für den Bund:
Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden.
Offen für die Welt, in der wir leben,
lasst uns nach Gerechtigkeit streben!
Frei, wer seine Freiheit nützt,
stark ein Volk, das Schwache stützt.
Weisses Kreuz auf rotem Grund,
unser Zeichen für den Schweizer Bund.

Sie legte auch eine «Schweizerstrophe» bei, welche alle Landessprachen vereint:

Weisses Kreuz auf rotem Grund,
unser Zeichen für den Bund:
Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden.
Ouvrons notre coeur à l’équité
et respectons nos diversités.
Per mintgin la libertad
e per tuts la gistadad.
La bandiera svizzera,
segno della nostra libertà.

Viele valable Vorschläge wurden vorgebracht – Text und Melodie –, einig werden konnte man sich jedoch nicht: Es gibt derzeit keinen offiziellen Prozess zur Änderung. Der Bundesrat erklärte 2014, «die heutige Landeshymne brauche […] den Vergleich mit zeitgenössischen Schöpfungen nicht zu scheuen und sei dank ihrer Bekanntheit eine würdige Landeshymne.» Inhaltlich kann man sich das wohl zurechtbiegen: Der Text beleuchte von seiner Bildsprache und Entstehungsgeschichte her verschiedene Gegensätze der Schweiz, er propagiere nicht Gewalt und Waffenliebe, sondern hebe die Liebe zu Gott, Heimat und Vaterland hervor, und er sei nicht nur für Christen, sondern auch für Anhänger anderer Religionen offen. (Womit die Schweiz als grundsätzlich christliches Land ausgedient hätte?)

Aber wie soll man in der heutigen Zeit mit der vollkommen antiquierten Sprache zurechtkommen? Es beginnt mit der ersten Strophe, der wohl einzigen, die man gerade noch so kennt: Im Morgenrot dahertreten, im Strahlenmeer (vielleicht sind bald wieder AKWs am Netz?), Hocherhabener, der Alpenfirn (kennen Sie das Wort? Es ist Schnee, der mindestens ein Jahr alt ist. Er ist rasant am Schwinden!), freie Schweizer (gibt es auch unfreie?), die fromme Seele, das hehre Vaterland – hehr? Vaterland? Mutterland?
Die weiter oben positiv beleuchteten Inhaltskriterien müssen viel kompensieren.

Zum Schluss ein Blick – zum Schmunzeln, nicht böse gemeint – auf das Musikalische des Schweizerpsalms und einen kleinen Vergleich.
Es gibt viele schmissige Hymnenmusiken, etwa die Marseillaise. Sie ist wohl die gelungenste Nationalhymne überhaupt, das musikalische Signet der Französischen Revolution und die einzige historische Nationalhymne, die in einem genialen Wurf ohne direkte Vorlage geschaffen wurde.
Oder das Star Spangled Banner der Amerikaner:

Notenbsp. = die ersten Takte USA

Innerhalb von drei Takten schwingt sich die Melodie in einem grossartigen Gestus über den Tonraum einer Duodezime auf – Yes, hier sind wir! Dagegen das vorsichtige, gut schweizerische Sich-Herantasten an einen neuen Höhengewinn, sich immer wieder der Bodenhaftung versichernd:

Notenbsp. = die ersten Takte CH

Es ist schon klar, dass das so sein muss, da ja die Melodie ursprünglich ein Messgesang war, dessen Duktus keine ausschweifenden Intervalle zulässt; trotzdem ist es irgendwie bezeichnend und auch gar nicht unsympathisch.

Ach, und die Fussballer werden beim Erklingen der Hymne wohl so oder so immer aussehen, als würden sie Kaugummi kauen …

Helene Ringgenberg
Organistin Christkatholische Kirche Bern