Moderne Herausforderung – selbstbestimmtes Sterben

«Selbstbestimmtes Sterben» hat Hochkonjunktur

Spätestens seit Einführung des Erwachsenenschutzrechts 2013 liegt die Entscheidung über eine mögliche Lebensverlängerung nicht mehr beim Arzt oder einer Ärztin, sondern bei der betroffenen Person selbst.
Foto: Shutterstock

Der medizinische Fortschritt und die Bedingungen des Gesundheitswesens fordern die Menschen von heute heraus. Sie müssen sich mit einem neuen Umgang mit dem Sterben auseinandersetzen: Der Tod ist immer weniger die Folge eines unerwarteten Schicksalsschlages, sondern die Konsequenz von Therapieentscheidungen.

Die Möglichkeiten der modernen Medizin, Menschen auch in kritischen Situationen am Leben zu erhalten und den Tod hinauszuschieben, sind heute beeindruckend. Es wird viel getan, um Leben zu retten. So selbstverständlich wir diese Möglichkeiten in Anspruch nehmen, so haben sie auch eine Kehrseite, die Angst macht: Angst, dass einen die moderne Medizin daran hindere, zu gegebener Zeit in Ruhe sterben zu dürfen. Darum hat der Ruf nach «selbstbestimmtem Sterben» seit Jahren Hochkonjunktur.

Medizinische Lebensverlängerung
Ist in den Medien oder in der Öffentlichkeit von «selbstbestimmtem Sterben» die Rede, geht es meist um die Frage nach dem assistierten Suizid. Damit wird die eigentliche Herausforderung des Themas aber verkannt. Assistierte Suizide machen einen äusserst geringen Prozentsatz aller Todesfälle aus und spielen daher für die Frage des selbstbestimmten Sterbens nur eine marginale Rolle.

Die wesentlichen Fragen ergeben sich aus dem Umstand, dass wir aufgrund medizinischer Fortschritte und der Bedingungen unseres Gesundheitswesens genötigt sind, uns mit einem neuen Paradigma im Umgang mit dem Sterben generell vertraut zu machen. Dieses besteht darin, dass Sterben – früher Inbegriff der Erfahrung eines fremdverfügten Schicksals – zunehmend zum Gegenstand eigenen Entscheidens, also eines selbstbestimmten und selbstgeplanten Geschehens wird. Angesichts des heute zur Verfügung stehenden medizinischen Arsenals an lebensverlängernden Massnahmen wird Sterben immer mehr zu einer Konsequenz von Therapieentscheidungen. Der Tod ist immer weniger die Folge eines unerwarteten Schicksalsschlages, sondern Konsequenz einer bewussten Entscheidung.

Patient entscheidet
In der Schweiz erfolgt in weit mehr als der Hälfte aller medizinisch begleiteten Todesfälle das Sterben erst, nachdem entsprechende Entscheidungen – in der Regel geht es um passive Sterbehilfe, also um den Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen – gefällt wurden. Und wer entsprechende Entscheidungen fällen soll, ist rechtlich gesehen klar geregelt: Spätestens seit Einführung des Erwachsenenschutzrechts 2013 liegt die Entscheidung über eine mögliche Lebensverlängerung oder ein Zulassen des Sterbens nicht mehr beim Arzt oder einer Ärztin, sondern im Sinne der Patientenautonomie bei der betroffenen Person selbst. Und wenn sie nicht (mehr) selbst entscheiden kann, müssen vertretungsberechtigte Personen nach der in Art. 378 ZGB festgelegten Kaskade bestimmen, was der mutmassliche Wille des Patienten oder der Patientin ist. Dieser ist dann für das medizinische Personal verbindlich.

Sterben wird planbar – das ist ein Grundzug der modernen Gesellschaft. Ebenso wie am Anfang des Lebens wird auch am Ende des Lebens nichts dem Zufall überlassen.
Foto: Shutterstock

Der Tod kommt nicht mehr von selbst
Das heisst: In der Mehrzahl der Fälle ist Sterben heute nicht mehr einfach eine Entscheidung der Natur, des Schicksals, des Arztes oder des «Herrn über Leben und Tod». Wir müssen den Tod heute immer häufiger in die eigenen Hände nehmen, auch wenn wir keinen Suizid begehen wollen. Der Tod kommt nicht mehr einfach, er muss geplant, beschlossen, durchgeführt werden. Wir müssen heute immer mehr selbst entscheiden, was früher dem Schicksal überlassen wurde. Sterben lassen wir nicht mehr einfach geschehen. Für das Sterben muss man sich entscheiden. Die Frage ist dabei gar nicht, ob man das gut findet oder nicht. Es ist einfach so, ist Teil der Rahmenbedingungen der heutigen Medizin und unseres Gesundheitssystems geworden.

Das ist das Neue: Sterben und Tod sind für uns moderne Menschen zum «Problem» geworden, das uns aktive Entscheidungen abverlangt. Der Tod kommt nicht mehr, sondern er wird zur letzten Gestaltungsaufgabe des Menschen. Sterben wird planbar – das ist ein Grundzug der modernen Gesellschaft. Ebenso wie am Anfang des Lebens wird auch am Ende des Lebens nichts dem Zufall überlassen. Das heisst: Wir haben es heute mit Blick auf die Selbstbestimmung beim Sterben mit einem kulturgeschichtlich neuen Paradigma des Sterbens zu tun – weit über das zahlenmässig begrenzte Phänomen assistierter Suizide hinaus. Mit ihm angemessen umzugehen ist für den sterbenden Menschen wie für die den Sterbeprozess begleitenden Angehörigen und Professionellen (Ärztinnen, Pflegende, Seelsorgende) noch weithin ungewohnt und anspruchsvoll.

Freiheit oder Überforderung?
Die Freiheit zur Selbstbestimmung mit Blick auf das eigene Sterben ist heute ein zentraler ethischer wie juristischer Gedanke und hat vorerst noch nichts mit assistiertem Suizid zu tun, sondern gilt für medizinisch begleitete Sterbeprozesse ganz allgemein. Das gehört heute – auch wenn das viele noch kaum realisiert haben dürften – zum neuen Paradigma des Umgangs mit dem Sterben. Das bedeutet zweifellos ein Mehr an Freiheit und Selbstbestimmung für Sterbende. Die Freiheit der Selbstbestimmung mit Blick auf das Sterben ist aber zugleich eine Verpflichtung zur Selbstverantwortung des eigenen Sterbens. Es hat eine «moralische Responsibilisierung» des Sterbens stattgefunden: Wenn ich in hohem Alter eine Lungenentzündung bekomme, muss ich entscheiden, ob sie mit Antibiotika bekämpft werden soll oder nicht. Ich muss – mir selbst, meinen Angehörigen, der Gesellschaft, Gott oder wem auch immer gegenüber – Rechenschaft geben, ob ich und warum ich allenfalls weiterleben will oder nicht. Solange der Tod «kam» musste sich keiner rechtfertigen: Es bedurfte einer solchen Debatte nicht. Das moderne Subjekt hat sich in die fatale Lage gebracht, dass es nun selbst sein Sterben und seinen Tod zu verantworten hat.

Hinter diese Situation können wir gar nicht mehr zurück. Dass dadurch leicht ein subtiler Druck auf alte, kranke Menschen entstehen kann, im Sinne eines «sozialverträglichen Frühablebens» ihr Leben «selbstbestimmt» zu beenden, ist naheliegend. Sollte solcher Druck von aussen ausgeübt werden, stellte dies einen unzulässigen Übergriff auf Selbstbestimmung und Autonomie dar. Diese Problematik wäre jedoch nicht etwa Organisationen anzulasten, die assistierten Suizid anbieten, sie ist vielmehr eine unausweichliche Konsequenz des neuen Paradigmas selbstbestimmten und damit selbst zu verantwortenden Sterbens unter den real existierenden Bedingungen eines modernen Gesundheitswesens.

Zeit für Klarheit nötig
Solche Entscheidungen können durchaus an eine Überforderung grenzen. Manch ein Sterbender dürfte höchst ambivalent vor solchen medizinischen Entscheidungen am Lebensende stehen und sich schwertun, selbstbestimmt zu entscheiden. Es ist eben durchaus nicht so, dass wir immer fähig sind, autonom zu entscheiden, was wir wollen oder was das Beste für uns sei. Gerade in extremen Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, sind Menschen oft hin- und hergerissen zwischen unterschiedlichen Optionen und Bedürfnissen. Sie brauchen Zeit, um Klarheit zu gewinnen darüber, was sie denn wirklich wollen, was für sie stimmig ist. Darum ist etwa die seelsogerliche Begleitung von schwerkranken und dem Tode nahe stehenden Personen so zentral. Darum ist auch ein Beratungsprozess, wie er von Sterbehilfeorganisationen vor einer Suizidbegleitung angeboten wird, eminent wichtig und hilfreich und kann nicht ernst genug genommen werden.
Es ist an der Zeit, diese neue Situation selbstbestimmten Sterbens mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen in der Fachwelt des Gesundheitswesens, in den Kirchen und in einer breiten Öffentlichkeit ernsthaft und jenseits unfruchtbarer Polemik zu diskutieren. Dabei ist klar: Selbstbestimmtes Sterben betrifft nicht nur suizidwillige Menschen. Es geht um den Umgang mit Sterben in unserer Gesellschaft überhaupt.

Heinz Rüegger
Freischaffender Theologe, Ethiker und Gerontologe und freier Mitarbeiter am Institut Neumünster, einem auf Altersfragen spezialisierten interdisziplinären Kompetenzzentrum der Stiftung Diakoniewerk Neumünster in Zollikerberg.


Heinz Rüegger: «Ich bin und

werde selber gerne alt».

Ich wurde 1953 geboren, habe drei erwachsene Kinder und wohne mit meiner Frau in Zollikerberg bei Zürich. Ich bin ausgebildeter Theologe, Ethiker und Gerontologe und beschäftige mich seit vielen Jahren mit ­Fragen des Alters und des Alterns. Seit meiner Pensionierung Ende 2018 bin ich freiberuflich und als freier Mitarbeiter des Instituts Neumünster tätig. Dabei ist mir der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher ­Forschung und dem praktischen Alltag von Institutionen des Sozial- und Gesundheitswesens wichtig.
Leben heisst altern. Ich erlebe das Thema Alter(n) als ungemein spannend und vielseitig. Ich bin und werde selber gerne alt und befinde mich ­ständig auf der Suche nach einer Lebenskunst des Alter(n)s, die das Alter ernst nimmt mit seinen besonderen Möglichkeiten und Grenzen, mit ­seinen speziellen Aufgaben und Herausforderungen

Über selbstbestimmtes Sterben
Zwischen Freiheit, Verantwortung
und Überforderung.
Heinz Rüegger, Roland Kunz

Das Leben ist endlich und geht früher oder später unweigerlich auf den Tod zu. Bis in die jüngste Vergangenheit war der Mensch dem Sterben und dem bevorstehenden Tod ohnmächtig ausgesetzt. Es war ein fremd verfügtes Schicksal, gegen das die Betroffenen nichts ausrichten konnten.

Einband: Gebundene Ausgabe
Erscheinungsdatum: 12. 8. 2020
Verlag: Rüffer & Rub