Vom Verräter zum Volkshelden ohne Volk

Major Davel – Marsch nach Lausanne mit Waffen, aber ohne Munition

Die Statue von Major Davel steht vor
der Fassade des Schlosses
­Saint-Maire mit der Inschrift: Au Majeur
Davel, le Peuple Vaudois. Ce que je
fais, n’est pas l’oeuvre d’un jour.
Ma mort sera utile pour mon pays –
Für Major Davel, das Volk des Waadt­
landes. Das was ich tue, ist nicht das
Werk eines Tages. Mein Tod wird
­nützlich sein für mein Land. Foto: Alamy

Vor 300 Jahren wollte Jean Daniel Abraham Davel das Waadtland von Bern befreien. Die eigenen Leute verrieten ihn, er landete auf dem Schafott. Die Geschichte vom Volkshelden ohne Volk zeigt, welche Hürden die Waadt, mit «Liberté et Patrie» im Wappen, zu überwinden hatte, um zu dem modernen Staat zu werden, als den wir ihn heute kennen.

Wer im Waadtland auf Reisen geht, sieht an Wirts­hausschildern, Wegweisern oder Denkmälern immer wieder den Namen Major Davel (1670–1723). Davel war der erste, der die Waadt aus der Berner Herrschaft befreien wollte. Seine Person ist im Laufe der Geschichte unterschiedlich beurteilt worden: Hochdekorierter Soldat, Grand-Majeur, verrückter Träumer und Aufrührer, selbstloser Volksheld, Freiheitskämpfer und Märtyrer, der alles auf sich nimmt. Das Leben von Jean Daniel Abraham Davel erzählt Waadtländer Geschichte, Berner Geschichte und damit auch Schweizer Geschichte.

Pfarrerssohn, Notar, Söldner und Grand-Majeur

Jean Daniel wurde 1670 in Morrens nördlich von Lausanne geboren, wo sein Vater reformierter Pfarrer war. Er machte das, was die Herren von Bern einem junge Waadtländer ermöglichen konnten. Mit 18 Jahren wurde er in Cully, dem Hauptort des Lavaux-Weingebiets am Ufer des Léman, Vermessungskommissar und Notar des Landvogts. Als 22-Jähriger trat er einem welschbernischen Regiment bei, das im Dienste des Statthalters der Niederlande und späteren Königs von England Wilhelm III. stand. Davel wurde Sekretär, dann Aide-Major des Regimentskommandanten Oberst Jean de Sacconay und von 1708 bis 1711 diente er dem französischen König. 1712 war er bei den welschbernischen Truppen im Einsatz, die im Zweiten Villmergerkrieg gegen die katholischen Orte kämpften. Hauptmann Davel schlug sich bei Bremgarten so tapfer, dass er ausgezeichnet und zum Kommandanten des Kreises Lavaux ernannt wurde: Er erhielt den Titel «Grand-Majeur» – daher sein Name Major Davel. Eine Bilderbuchkarriere. Umso mehr erstaunt, was danach geschah.

Marsch nach Lausanne

Am 31. März 1723 beorderte Major Davel 600 Mann auf den Waffenplatz nach Cully zur Inspektion. Den Tag hatte er nicht von ungefähr gewählt: Alle Waadtländer Landvögte waren gerade in Bern, wo eine Neuverteilung der Ämter vorgenommen wurde, so dass das Schloss Saint-Maire in Lausanne – seit 1536 Hauptsitz der bernischen Verwaltung über das Waadtland – leer stand. Major Davel gab seinen Milizen den Befehl, nach Lausanne zu marschieren und er liess sie Waffen tragen, doch ohne Munition. Er ging ins Rathaus, um vor dem zusammengerufenen Kleinen Rat der Stadt eine Erklärung abzugeben. Die Ratsherren schwörten zuerst Treue auf «nos souverains Seigneurs» in Bern und erteilten Davel hierauf das Wort. Dieser verlas ein Manifest, worin er ankündigte, dass das Waadtland von den Berner Tyrannen befreit werden müsse. Durch ihr ungerechtes Regime müssten die Gnädigen Herren die Souveränität über das Waadtland hergeben.

Plädoyer für eine gerechte und freie Gesellschaft

Die Ratsherren verlangten eine Bedenkzeit und sicherten Geheimhaltung zu. Sie luden Major Davel zum Nachtessen ein, an dem die Befreiungsaktion vorbereitet werden sollte. Doch in der Zwischenzeit befahl der Generalkontrolleur in bernischen Diensten, Jean Daniel de Crousaz, seinen Milizen zum Schloss zu kommen und schickte einen Emissär nach Bern, um die Gnädigen Herren zu informieren. In der Aarestadt reagierte man schnell. Die Landvögte wurden in ihre Schlösser zurückgeschickt und den für das Waadtland zuständige Welschseckelmeister Ludwig von Wattenwyl beorderte man nach Lausanne. Als im Morgengrauen die Stadttore geöffnet wurden, standen sich die Truppen Davels und 1500 Mann der Milizen von Jean Daniel de Crousaz gegenüber. Als Major Davel sich zu seinen Truppen begab, wurde er vom militärischen Befehlshaber der Stadt, Mr. Descombes, verhaftet. Davel glaubte zuerst an einen Irrtum, doch als ihm der Ernst der Lage bewusst wurde, übergab er seinen Degen und sagte:
«Je vois bien que je serai la victime de cette affaire, mais n’importe; il en reviendra quelque avantage à ma patrie – Ich sehe wohl, dass ich in dieser Angelegenheit das Opfer geworden bin, aber das macht nichts, denn es werden sich für mein Vaterland einige Vorteile ergeben.»

«umbs etwas hirnmütig»

Um herauszufinden, wer alles hinter der Verschwörung gegen die legitimen, von Gott eingesetzten bernischen Herrscher stehen könnte, wurde Davel gefoltert. Er bekannte schon zu Anfang seiner Verhaftung, dass er die ganze Verantwortung alleine trage. Am Morgen des 1. April 1723 wurde Major Davel verhaftet und zum Schloss gebracht. Gleich um 7 Uhr begann das Verhör. Davel sprach von einer Begebenheit, die sich in früheren Jahren ereignete: Eine schöne, unbekannte Frau habe ihm und seiner Mutter eines Nachts prophezeit, Gott würde ihn zu grossen Taten ausersehen. Davels mystische Seite verwirrte von Wattenwyl. Dieser kam zum Schluss, dass der Major «umbs etwas hirnmütig», leicht verrückt, sein müsse. Am 12. April wurde die Untersuchung abgeschlossen und der Fall an das Lausanner Kriminalgericht überwiesen. Dieses verurteilte Davel wegen Hochverrats zum Tod durch Abtrennung der Faust und des Kopfes. In zweiter Instanz wurde das Urteil von den Gnädigen Herren, «Leurs gracieuses Excellences», abgemildert und dem Todgeweihten das Abhauen der Faust erspart – in Anbetracht der früheren Verdienste des Angeklagten im Bernischen Dienste.

Öffentliche Hinrichtung als Abschreckung

Die Hinrichtung fand am 24. April in Vidy am See statt. Es war ein Samstag und Markttag und die Gnädigen Herren wollten die Hinrichtung zwecks Abschreckung als grosses Spektakel aufziehen. Zuerst wurde das Urteil verlesen, dann bekam der Verurteilte das Wort unter der einen Bedingung, nicht gegen Bern aufzuwiegeln. Die Rede Davels war ein flammendes Plädoyer für eine gerechte, freie Gesellschaft und ein Aufruf, die bürgerlichen Pflichten und die Pflichten Gott gegenüber ernsthaft zu erfüllen. Er schloss seine Rede vor der Menge mit den Worten:
«Dies ist also der schönste und ruhmreichste Tag meines Lebens. Es ist für mich ein Tag des Triumphes, der an Glanz alles übertrifft und krönt, was mir bis jetzt Rühmliches widerfahren ist. Und was gebe ich dran, um eines solchen Glückes teilhaftig zu werden? Die wenigen Jahre, die ich vielleicht noch hätte leben können, sind nichts im Vergleich zu der Glückseligkeit, die ich jetzt geniessen kann!»

Dann kniet Major Davel nieder, nimmt Perücke und Krawatte ab und öffnet die Knöpfe seines Hemds. Kurz danach fällt der Kopf.

Davel wird zum Freiheits­helden: Späte Rehabilitierung

Wenn man heute von Major Davel als einem bedeutenden Mann des Kantons Waadt spricht, ist das dem Historiker Juste Olivier (1807–1876) zu verdanken. Er hat die Geschichte aufgrund von gesicherten Quellen neu zu schreiben versucht. Der Historiker fand heraus, dass man Major Davel absichtlich für nicht zurechnungsfähig erklärt hat und die Berner Herren nach der Hinrichtung Davels im Jahr 1723 all die wahren Sachverhalte vertuschen wollten. Der Freiheitskämpfer sollte als etwas verrückt und staatsgefährdend erscheinen.

Major Davel hatte vielleicht die prophetischen Züge einer Person mit Visionen und mutigen Ideen für die Zukunft, aber er war kein Chef oder Anführer einer Volksbewegung. Er war ein einsamer Wolf, der einen Staatsstreich versuchte. Bemerkenswert blieb, dass die Figur Davels selbst nach der zwangsweisen «Befreiung» des Waadtlands mithilfe französischer Bajonette und nach der Gründung der Helvetischen Republik 1798 wenig Beachtung fand.

Auch nach der Gründung des Kantons Waadt im Mediationsjahr 1803, als das Bedürfnis nach patriotischen Heldenfiguren, die den Unabhängigkeitswillen der Waadt verkörpern sollten, gross war, wurde der gescheiterte Befreier Davel noch kaum als Ahnherr wahrgenommen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts und von 1845 an, als die Waadtländer Freisinnigen die Macht im Kanton übernommen hatten, wurde Davel allmählich zum Märtyrer und zum Freiheitshelden. In der Kathedrale wurde ihm eine Tafel gewidmet, in Cully stellte man einen Obelisken auf und vor dem Lausanner Schloss Saint-Maire steht ein Denkmal von Davel.
Das 200-Jahr-Jubiläum seines Aufstands wurde 1923 gefeiert und der Bundesratspräsident Karl Scheurer, ein Berner, lobte Major Davel damals als einen grossen Schweizer. Auch an der Landesausstellung 1939 in Zürich wurde er geehrt. Major Davel hatte als Soldat und im Beruf viel erreicht, er hätte es nicht nötig gehabt, für die Freiheit des Waadtlandes sein Leben zu riskieren. Dass er es trotzdem tat, verdient unseren Respekt. Schon vor der amerikanischen und vor der französischen Revolution und vor der Entstehung der modernen Schweiz hat Davel erkannt, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Der wegen Hochverrats Verurteilte, von seinen Landsleuten verraten, darf wohl für sich beanspruchen, als einer der sanftesten Rebellen aller Zeiten in die Geschichte einzugehen.

Niklas Raggenbass


Gilbert Coutaz
Le Major Davel – Naissance du premier patriote vaudois
Verlag: Château & Attinger
ISBN: 978-2-9406-3764-5
Was 1723, als Major Davel hingerichtet wurde, genau geschah, ist bis heute nicht restlos geklärt, aber das Buch des früheren Direktors des Waadtländer Kantonsarchivs, Gilbert Coutaz, trägt einiges zur Aufhellung des Geschehens bei.