Ferien – Heimat – Fremde

Nicht nur ferne Länder – auch unsere Heimat hat an Erholungspotential viel zu bieten. Z.B. die Jungfrauregion. Foto: Paul Deck auf Pixabay.

Im Frühling und im Sommer zieht es viele weg von zu Hause. Ferien stehen an, etwas Neues sehen oder an einen altbekannten Ferienort zu reisen, darauf freuen wir uns. Manchmal sind die Ferien zu kurz, und man wäre gerne noch länger geblieben. Und manchmal freut man sich darauf, wieder nach Hause zu kommen. Der Tapetenwechsel tut gut. Aus dem Alltag herauskommen, seine Gedanken und seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, hilft uns, uns zu entspannen und neue Kräfte zu sammeln. „Ferien“, das ist eine sehr facettenreiche Angelegenheit. Sie hat viel mit der Spannung von Heimat und Fremde zu tun und dies nicht nur geographisch. Und schliesslich gibt es unterschiedlichste Gründe, eine Heimat zu verlassen. Ob man dabei damit rechnen kann, wieder dahin zurückkehren zu können oder nicht, gibt der Fremde erst das Gesicht und ihre Bedeutung.

Erholung

Ferien (feriae = Festtag/Ruhetag) kennt man in der Schweiz noch nicht so lange. Dies gilt auch für die anderen Länder, und in vielen Gesellschaften sind bezahlte Ferien bis heute nicht verwirklicht.

Vor gut 140 Jahren, 1879, wurden in der Schweiz erstmals Kurtage für Beamte des Bundes verordnet. In der Privatwirtschaft führte die zunehmende Büroarbeit zu einer nächsten Ferienregelung: Aufgrund des vermuteten Sauerstoff- und Bewegungsmangels in den Büros befand man es als angesagt, dass die Mitarbeitenden zwischendurch Ferientage bekommen sollten, an denen sie sich genügend bewegen konnten. 1920 kam es deswegen zu einer ersten Gesetzgebung solcher Ferientage. Für die Arbeiterschaft galt das hingegen nicht, da man befand, dass diese draussen ja genügend Sauerstoff und Bewegung bekäme… Aber auch Fabrikarbeitende waren nicht eingeschlossen. Nach dem 2. Weltkrieg führten gewisse Kantone Ferienregelungen für alle ein, ab 1966 galt dies dann bundesweit. Von zwei über drei Wochen kam man gesetzlich verankert in den 1970er Jahren auf vier Wochen Ferienanspruch für alle. Eine gesetzlich verankerte Erhöhung der Ferien für alle auf fünf Wochen in den 1980er Jahren und auf sechs Wochen in den 2010-er Jahren verwarf das Schweizer Stimmvolk beide Male.

Feriae bezeichnete im Mittelalter und der frühen Neuzeit allein Festtage. Man unterschied dabei zwischen feriae sacrae und feriae profanae, also zwischen religiösen und weltlichen Festen, an denen man ganz oder teilweise von der Arbeit befreit wurde (allerdings fehlte dann auch der Lohn).

Den in allen anderen deutschsprachigen Ländern als Urlaub (von urloup = Erlaubnis, Erlaubnis zu gehen, Abschied) bezeichnete Zeitraum arbeitsfreier Tage gibt es ab dem 19. Jh. Allein in der Schweiz setzte sich der Begriff aber nicht durch – auch nicht in der Schriftsprache. Wir gehen bis heute in die Ferien und fahren nicht in den Urlaub.

Ausschlaggebend für die Einführung von gesetzlich verankerten Ferien war und ist die Sorge um die Gesundheit. Deshalb gibt es eine Pflicht für Ferien bzw. Ruhezeiten.

Fernweh

Erholung wurde lange nicht mit einem Ortswechsel verbunden. Reisen war den Reichen, den Gebildeten, den Mächtigen vorbehalten. Lange war es für viele Schweizer Familien unmöglich, gross in die Ferien zu gehen, schon gar nicht ins Ausland. Nicht nur die höheren Einkommen spielen bei unseren Ferienplanungen heute eine wichtige Rolle, sondern auch der veränderte Tourismus. Erst die Entwicklung der Transportmittel und die unterdessen häufig sehr tiefen Reisekosten machen das Bereisen ferner Länder heute breitflächig möglich.

Das Verreisen bzw. das Auswandern an andere Orte kann auch eine Möglichkeit sein, sich aus einer als unangenehm wahrgenommenen Umgebung für eine längere Zeit oder für immer zu lösen.

Ob man nun das Verreisen in die Ferien geniesst oder ob man freiwillig das Gewohnte auf unbestimmte Zeit verlässt, so hat beides einen ganz wichtigen Hintergrund: Man hat ein sicheres Zuhause, man hat einen Ort, an den man bei Bedarf zurückkommen kann. Die Freude am Weggehen hat viel mit der Sicherheit einer verlässlichen Heimat zu tun, sogar wenn diese nicht einfach als positiv wahrgenommen wird.

„Feriae“ in der Bibel

Auch in biblischen Zeiten gab es schon arbeitsfreie Tage, die für alle Menschen eines Haushaltes galten. Der Haushalt umfasste nicht nur die Familie, sondern auch die Angestellten bis zu den Sklaven.

Dieser freie Tag war zuerst einmal der Sabbat, an dem es allen Jüdinnen und Juden verboten war, zu arbeiten oder jemanden zur Arbeit zu zwingen. Zusätzlich gab es das sog. Sabbatjahr. Sechs Jahre sollen alle Felder, Äcker und Weinberge bestellt werden, aber im siebten Jahr soll alles ruhen. Ein Ruhejahr also für die Landwirtschaftsflächen. Gewisse orthodoxe Juden halten diese Praxis bis heute ein.

In diesem Sabbatjahr gab es aber noch andere Besonderheiten: So sollten in diesem Jahr keine Schulden eingetrieben und es den Sklaven freigestellt werden, ob sie in die Freiheit entlassen werden wollten – der Wunsch danach war jedoch nicht gross, da man damit auch seine wirtschaftliche Lebensgrundlage verlor.
Historisch sind diese Ruherhythmen aber einzigartig und kamen nur in der jüdischen Gesellschaft vor. Andere antike Gesellschaften kannten teilweise einzelne vom Herrscher geschenkte Freitage, aber keinen Wochenrhythmus mit einem arbeitsfreien Tag oder gar ein Ruhejahr.

Die jüdischen feriae sacrae hatten aber mit Verreisen oder dem Wohl der Gesundheit herzlich wenig zu tun. Vielmehr ging und geht es hier um die Einhaltung der göttlichen Gesetze in Anlehnung an den Schöpfungsbericht, wonach Gott am siebten Tage ruht.

Das unfreiwillige Verlassen der Heimat

Mit Reisen in ferne Länder beschäftigt sich die Bibel in erster Linie in Zusammenhang mit Vertreibung, Hungersnöten oder der Flucht aus der Gefangenschaft und Unterdrückung. Die Suche nach dem gelobten Land steht für das Volk Israel dabei im Vordergrund.

Bis heute ist das unfreiwillige Verlassen der Heimat bei allen Tourismusströmen leider die häufigste Form des Reisens. Die Flucht vor Hunger, Verfolgung und Krieg zwingen unzählige Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. In diesen Tagen, Wochen und Monaten erleben wir dies hautnah. Und wir werden uns bewusst, wie wichtig ein Zuhause, und gleichzeitig auch wie verletzlich eine Heimat ist: Klimaveränderung, Naturkatastrophen, ungerechte Gesellschaftsordnungen bis hin zum Krieg rauben vielen Menschen ihr Zuhause.

Schon als Kind wissen wir, wie bedeutend unsere Heimat für uns ist. Heimweh kann zutiefst quälen. In der aktuellen Zeit kommt dieses Grundgefühl sehr berührend zum Ausdruck in diesem grossen Wohlwollen vieler Menschen gegenüber den zu uns flüchtenden Ukrainerinnen und Ukrainern. So manche teilen ihr Zuhause nun mit fremden Menschen, versuchen ihnen wieder Boden unter den Füssen zu geben und damit zumindest eine vorübergehende Heimat.

Erholung und Heimat

Heimat und Erholung haben viel miteinander zu tun. Dass wir unsere Ferien gerne weit weg von allem, was uns sonst begleitet, verbringen, das ist dabei kein Widerspruch. Heimat ist der Ort, wo wir ganz bei und in uns sind. Dort wo wir Ruhe haben, wo wir uns entspannen, dort wo wir uns sicher und geschützt fühlen. Und das verbinden wir nicht nur mit einem geographischen Ort.

Heimat geschieht immer auf unterschiedlichen Ebenen. Das Gefühl des Daheim-Seins ist ein sehr vielschichtiges Gefühl. Manchmal kann es gerade wichtig sein, das Gewohnte zu verlassen, um zu den eigenen Wurzeln, zum eigenen Ruhepunkt zu gelangen.

Muss man seine Heimat aber unfreiwillig verlassen, das kann geographisch sein, aber durchaus auch ideell oder religiös, dann werden die eigenen Wurzeln ins Tiefste erschüttert. Ohne ein Zuhause können wir alle kaum existieren.

„Feriae“ heute

So sind unsere Ferien vielleicht Orte und Zeiten, in denen wir uns der Vielschichtigkeit von Heimat sehr bewusst werden können. Vielleicht drücken das gerade die feriae sacrae ganz deutlich aus: Das Gewohnte, Alltägliche wird für einen Moment unterbrochen. Die Aufmerksamkeit liegt nicht mehr bei der täglichen Arbeit, bei dem, was wir zum Leben zwingend brauchen, oder bei dem, was notwendig und vernünftig ist. Vielmehr beschäftigt man sich in den feriae sacrae mit etwas Fremdem, das häufig nicht einmal vernünftig scheint. Am deutlichsten zeigt sich dies wohl an Ostern, wenn wir uns mit der herausfordernden Geschichte von Tod und Auferstehung unseres Gottes beschäftigen. Was wir an unseren Festtagen tun, ist eine spezielle Art des Reisens und des nach Hause Kommens. Wir folgen der Fremde von wundersamen Geschichten und finden uns doch in unserem tiefsten Menschsein wieder.

Ich wünsche mir, dass wir uns Fremde und Heimat teilen können. Dass die Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, bei uns Halt finden können, und dass wir durch sie lernen, dass wir dieses kostbare Gut des Daheim-Seins nur bewahren, wenn wir es miteinander teilen.

Liza Zellmeyer