Wie nimmt uns Gott wahr?

Allgegenwärtiges Auge Gottes?

Frage: Nimmt Gott uns anders wahr als wir selbst?

Manchmal erwachen wir und merken einen Moment lang, wie wenig wir nicht einmal unseren eigenen Massstäben gerecht zu werden vermögen. Dieses Erwachen ist die zarte Stimme Gottes in uns, dass die eigentliche Realität noch mehr umfasst als unser Bezogensein auf uns selbst.

Ja, Gott liebt uns so, wie wir sind. Aber er hat darum auch ein viel klareres Bild von uns, als wir selbst es haben. Ja, er liebt uns auch mit unseren Fehlern; aber seine Liebe zu uns ist grösser als unsere eigene Liebe zu uns. Dieser Unterschied in der Wahrnehmung ist ein Aspekt dessen, was Christen Sünde nennen. Sünde ist der Abstand, der uns von Gott trennt – ein wirklicher «Sund» also! Gott liebt uns aber auf eine so hingebungsvolle Weise, dass er die Trennung zwischen ihm und uns aufheben möchte. Dies ist ein Prozess, der ungemein schmerzhaft sein kann. Wie komplex dieser Vorgang in der Wirklichkeit ist, davon erzählt die Bi- bel auf über tausend Seiten. Ja, die Liebe Gottes ist auf das engste mit Schmerz verbunden. Darum ist jeder Schmerz in der Tat ein geheimnisvoller Hinweis auf Gott.

Diese ganze, unbeschreibliche Komplexität erleben Christen gebündelt in der Feier der Eucharistie. In der Eucharistie kommt jemand, der den äussersten Schmerz erlitten hat, mit dem Ziel, dass wir uns so wahrnehmen können, wie Gott uns wahrnimmt, und dieser Jemand gibt sich jedem einzelnen von uns hin – in der größten Intensität und Intimität, so sehr, dass wir ihn körperlich umfassen und mit unseren Sinnen schmecken können.

Darum ist die Eucharistie paradox: Dies ist der Augenblick, in dem wir uns so wahrnehmen können, wie Gott uns wahrnimmt – die grösste Klarheit und das grösste Geheimnis fallen in eins.

Mathias Kissel

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