Hagia Sophia ist Erbe des ganzen Christentums

Unverständnis und Enttäuschung, dass der Westen so tut, als ob ihn Hagia Sophia nichts anginge.

Was jetzt in Istanbul mit der Hagia Sophia passiert, betrifft nicht nur die griechisch-orthodoxe Kirche und es ist auch sicher kein Konflikt bloss zwischen der Türkei und Griechenland, sondern es betrifft die gesamte Christenheit. Das hat der Grazer orthodoxe Theologe Prof. Grigorios Larentzakis im Interview mit der Nachrichtenagentur Kathpress betont. Die Hagia Sophia sei nicht nur der eigentliche Sitz des Ökumenischen Patriarchats, sondern das gemeinsame christliche Symbol und Erbe des ganzen einheitlichen Christentums.

Umso unverständlicher und enttäuschender sei es, dass die nunmehrige Umwandlung in eine Moschee durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Westen bis auf einige diplomatisch vorgetragenen Worte der Besorgnis kaum auf Widerspruch stosse. Der Westen rechtfertige sich wohl damit, „dass ihn das alles gar nicht direkt betrifft“, doch das sei falsch, so Larentzakis: „Die Hagia Sophia ist unsere gemeinsame Geschichte und unser gemeinsames Erbe.“ Im Übrigen gebe es auch islamische Stimmen, die die Umwandlung in eine Moschee als illegal bezeichnen würden. Der Theologe verwies in diesem Zusammenhang auf den Großmufti von Ägypten und Islamvertreter in Nordamerika.

Prof. Larentzakis erläuterte, dass die Hagia Sophia in einer Zeit errichtet wurde, als die Gesamtkirche des Ostens und des Westens im Bewusstsein der einen einheitlichen Kirche Christi lebte. Wenn immer wieder in westlichen Darstellungen erwähnt wird, dass diese grosse und prächtige Kirche im Bereich der „Griechisch-Orthodoxen Kirche des Byzantinischen Reiches“ gebaut wurde, dann sei das nicht richtig. Damals sei Konstantinopel die Hauptstadt des einen Imperium Romanum des Ostens und des Westens gewesen. „Die damalige Reichskirche umfasste nicht nur die Ostkirche, wie manche meinen, sondern die Gesamtkirche.“

Die in Konstantinopel residierenden Kaiser hätten etwa die bis heute gemeinsamen gültigen ersten sieben Ökumenischen Konzilien der Gesamtkirche einberufen. Larentzakis: „Das waren keine reinen Angelegenheiten der Griechen.“ Kaiser Justinian, der von 527 bis 565 regierte und von 532 bis 537 die Hagia Sophia erbauen liess, habe etwa das fünfte gemeinsame Ökumenische Konzil für den Osten und den Westen (553) einberufen. Auch Papst Vigilius akzeptierte schliesslich die Beschlüsse des Konzils.
Larentzakis wörtlich: „Die Entscheidungen in Konstantinopel, die politischen und kirchlichen Handlungen der Kaiser, vor allem auch Justinians, symbolisiert und manifestiert im Bau des grossartigen christlichen Gotteshauses der Kirche Hagia Sophia, haben nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen und schliesslich für das heutige gemeinsame Europa enorme Bedeutung, auch wenn Vieles vergessen wurde.“ Mehr tatkräftiges Interesse der Gesamtchristenheit an der Hagia Sophia wäre insofern auch ein wichtiger und vertrauensfördernder ökumenischer Schritt hin zur Verwirklichung der vollen kirchlichen Gemeinschaft.

Christ Pantocrator – Mosaïque de la Déisis – Sainte-Sophie (Istambul, Turquie)

Kein endgültiges Schisma zwischen Ost und West

Der orthodoxe Theologe bekräftigte in diesem Zusammenhang auch einmal mehr seine Überzeugung, dass zwischen katholischer und orthodoxer Kirche „nie ein grosses endgültiges Schisma, keine gegenseitige gültige kirchliche Verurteilung, keine grosse Spaltung vollzogen wurde“; auch nicht im Jahr 1054, als sich Kardinal Hubert von Silva Candida und Patriarch Michael Kerullarios in Konstantinopel gegenseitig exkommunizierten. Zum einen habe Hubert von Silva Candida, Berater Papst Leos IX. und dessen Gesandter an Kaiser und Patriarch in Konstantinopel, am 16. Juli 1054, drei Monate nach dem Tod seines Auftraggebers, wohl kein Recht mehr gehabt, die Bannbulle auf dem Altar der Hagia Sophia niederzulegen. Zweitens habe sich die Bannbulle nur gegen den Patriarchen und dessen Anhang, nicht gegen den Kaiser oder die ganze östliche Kirche gerichtet. Drittens: Auch der Patriarch exkommunizierte nicht die ganze abendländische Kirche, sondern nur Kardinal Humbert und seine Hintermänner.

Diese Fakten waren den Kirchenverantwortlichen in Ost und West durchaus bekannt. So wurden folgerichtig am 7. Dezember 1965 beim gemeinsamen ökumenischen Akt in Rom und Konstantinopel die Exkommunikationen aus dem Jahre 1054 wörtlich „aus der Mitte und dem Gedächtnis der Kirche entfernt“. Die Exkommunikationen wurden nicht aufgehoben, weil es nichts aufzuheben gab. Nachdem also 1054 als Datum für die Kirchenspaltung von Ost und West nicht taugt, stellt sich die Frage, wann denn dieses Schisma vollzogen wurde. Laut Prof. Larentzakis lässt sich aber eine solches „zwingendes und endgültiges Datum für das radikale große Schisma zwischen Ost- und Westkirche – vorher volle Kirchengemeinschaft, nachher absolut keine Kirchengemeinschaft“ – nicht finden.

Und deshalb müsse man sich dringend der Frage stellen, was das für die Beziehungen der Kirchen heute bedeute. Dass es eine Entfremdung zwischen Ost- und Westkirche gegeben hat und gibt, sei nicht zu leugnen, auf jeden Fall aber sei Ökumene kein Geschehen bzw. Dialog zwischen Kirchen, sondern innerhalb einer Kirche. „Wir gehören alle zu einer Kirche, bei allen Problemen. Wir gehören zu einer einzigen Familie.

Gekürzt übernommen aus:
ONA-News, Orthodoxe Nachrichten-Agentur (ONA), Nr. 17/ 21. Juli 2020

 

Zur Person
Grigorios Larentzakis lehrte ab 1987 20 Jahre lang als Universitätsprofessor an der Universität Graz orthodoxe Theologie. Er ist bis heute ökumenisch engagiert, u.a. in der Orthodox-Altkatholischen internationalen Arbeitsgruppe.

Blick über Instanbul und den Bosporus mit der Hagia Sophia in der linken Bildhälfte