Die neuen Ufer der kirchlichen Orthodoxie

Oliver Jens Schmitt – Orthodoxie als eine Frage der Identität

Die orthodoxen Kirchen sind über dem Ukraine-Krieg zerworfen
wie schon lange nicht mehr. Dabei geht es keineswegs um Klerikergezänk, sondern um Geopolitik. Reformkräfte regen sich.
Entsteht eine EU-Orthodoxie?

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in hohem Masse ein ideologischer Krieg. Den gedanklichen Überbau dazu liefert die Russische orthodoxe Kirche, deren Patriarch Kiril zu den wichtigsten Propagandisten des Moskauer Regimes gehört. Russland führe einen Krieg gegen «Satanisten» in Kyiv und gegen den verderbten Westen, es kämpfe für christliche Werte, für Familie und Vaterland, heisst es in Moskau. Im Westen wird bis heute nicht verstanden, wie bedeutsam die orthodoxe Dimension für die russische Staatsideologie ist. Und deshalb wird unterschätzt, in welcher Weise die EU auf dem Feld der von Moskau missbrauchten orthodoxen Tradition Russland entgegentreten könnte.

Intellektuelle Christdemokratie

Die Rede geht von der EU-Orthodoxie, einer Dimension der Europäischen Union, die bislang nie in Betracht gezogen wurde. Dabei zählt die EU mit Griechenland, Bulgarien und Rumänien gleich drei ganz oder mehrheitlich orthodoxe Staaten unter ihren Mitgliedern. In allen Fällen aber verlief der Beitritt als technokratischer Prozess, der kulturelle oder gar religiöse Dimensionen der aufgenommenen Gesellschaften ignorierte.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Die EU tut sich schwer mit den christlichen Wurzeln des Kontinents. Laizisten drängen dieses Erbe zurück, die alte Christdemokratie ist intellektuell eine Larve oder gibt ihren Namen gleich auf. Hinzu kommen Theorien wie jene des amerikanischen Politologen Samuel Huntington, der die orthodoxe Welt von einer westlichen unterschied. Den orthodoxen Gesellschaften wurde dabei das Potential zu einer demokratischen Entwicklung weitgehend abgesprochen. Durch die Ukraine verlaufe, so Huntington, eine Zivilisationsgrenze zwischen einem an Russland orientierten Osten und einem europäisch ausgerichteten Westen.

Die Ukraine widerlegt Huntingtons These auf dem Schlachtfeld. Dass Griechenland, Bulgarien und Rumänien heute der EU und der NATO angehören, belegt, dass euro-atlantische Integration und orthodoxe Kultur sich nicht grundsätzlich ausschliessen. Vor allem aber zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre, wie sehr die orthodoxe Welt in Bewegung geraten ist. Hier liegen Chancen für EU und NATO: die Orthodoxie muss nicht wie bisher stillschweigend dem Moskauer Einflussbereich zugeordnet bleiben. Doch müssen sich die säkularen Eliten darauf einstellen, dass im Osten unseres Kontinents Christentum und Kirche keine ‹quantité négligeable› sind, sondern ein zentraler Bezugspunkt von Identität und Gesellschaft.

Konflikt um Vorherrschaft

Seit Jahrhunderten liegen die beiden wichtigsten Zentren der Orthodoxie, der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel und die Kirchenleitung in Moskau, im Konflikt um die Vorherrschaft über die orthodoxen Gesellschaften, besonders um die Ukraine. 2016 kam es zum offenen Bruch zwischen den beiden Zentren. Konstantinopel unterstützt die kirchliche Eigenständigkeit der ukrainischen Kirche. Moskau beharrt darauf, alle einstigen Sowjetrepubliken unter seiner kirchlichen Gerichtsbarkeit zu halten. Dabei geht es nicht um Klerikergezänk, sondern um Geopolitik. Denn Konstantinopel hatte schon im Kalten Krieg den Versuchen Moskaus Paroli geboten, über die Kirche Einfluss in der nichtkommunistischen orthodoxen Welt auszuüben. Nun stemmt sich der Ökumenische Patriarch Bartholomäos gegen den Hegemonieanspruch des putintreuen Patriarchen von Moskau.

Die ukrainische Orthodoxie befindet sich derzeit in einem Prozess der Umorientierung nach Westen. Sollte die Ukraine dereinst der EU beitreten, entstünde eine orthodoxe Ländergruppe mit rund 75 Millionen Menschen. Sollte auch der Westbalkan aufgenommen werden, kämen noch einmal mehr als zehn Millionen Orthodoxe hinzu. Spätestens dann sollte die EU darüber nachdenken, was dies bedeutet.

Der Mangel an strategischer Reflexion zur Orthodoxie steht dabei in eklatantem Gegensatz zu den aufwendigen und durchwegs wenig erfolgreichen Versuchen, die Herausbildung eines europäischen Islams zu fördern. Wesentlich erfolgversprechender wäre ein genauerer Blick darauf, wie eine EU-Orthodoxie entstehen könnte, die sich als demokratisches Gegenmodell zur Moskauer Kirche versteht, welche offen Krieg propagiert und mit den Lehren des Christentums kaum noch etwas zu tun hat.

Einfach ist so ein Vorhaben nicht: Die orthodoxen Kirchen Griechenlands, Bulgariens und Rumäniens haben auf die euro-atlantische Integration bestenfalls mit Distanz, oft aber mit Skepsis reagiert. Die orthodoxen Kirchen sind Nationalkirchen in dem Sinne, dass sie sich als Vertreter einer ethnischen Gruppe empfinden. In der Regel fällt ihr Machtbereich mit einem Staatsterritorium zusammen. Nationale Nabelschau und Abwehr des Anderen sind mental tief verankert.

Ebenso ist die Tradition der Zusammenarbeit zwischen den orthodoxen Kirchen wenig ausgeprägt. Auch ist nicht zu übersehen, dass in allen drei Kirchen der EU-Orthodoxie antiwestliche Strömungen bestehen. Die EU und die nationalen Regierungen der drei orthodoxen Länder haben jahrelang zugesehen, wie Vladimir Putin sich an symbolischen Orten wie dem Heiligen Berg Athos in Griechenland als Schutzherr der orthodoxen Welt inszenierte.

Die EU-Orthodoxie hat auch unterschiedlich auf den russischen Überfall auf die Ukraine und dessen religiöse Begründung durch den Moskauer Patriarchen reagiert. Niemand hat so deutliche Worte der Verurteilung gefunden wie Patriarch Bartholomäos von Konstantinopel. Bukarest lehnte den Krieg in vorsichtigen Worten ab, Sofia setzte eine bis heute ohne Ergebnis arbeitende Kommission ein, Athen unterstützte Konstantinopel.

Vor kurzem aber ist etwas Ungewöhnliches geschehen: Erstmals seit dem Sturz der kommunistischen Diktatur haben sich in Rumänien zahlreiche der Kirche nahestehende Persönlichkeiten zu einer Petition zusammengefunden, die verlangt, Ostern solle am gleichen Tag wie in den Westkirchen gefeiert werden. Dies ist in der Orthodoxie kein kalendertechnisches Problem, sondern eine Frage der Identität. Und die Petenten begründeten ihren Schritt auch politisch. Sie wollen nicht zulassen, dass die Kirche weiter in Richtung Moskau driftet. Vielmehr soll sich die Kirche zur EU bekennen. Zum ersten Mal versuchen orthodoxe Intellektuelle in der EU, die Orthodoxie mit Demokratie und euro-atlantischer Integration zusammenzudenken. Sie werden seit rund einem Monat von prorussischen Traditionalisten heftig attackiert. Ihre Petition aber weist eine Richtung, die aufgegriffen und vertieft werden sollte, und zwar auch von der EU.

Antiwestlicher Nationalismus

Eine EU-Orthodoxie ist im Sinne einer Akteursgruppe derzeit keine Realität. Orthodoxe leben aber nicht nur im Südosten der EU. In vielen EU-Ländern bestehen teilweise alte orthodoxe Bevölkerungsgruppen. Wien etwa ist eines der wichtigsten Zentren der Orthodoxie ausserhalb der orthodoxen Staaten überhaupt. Die rumänische Osterinitiative argumentiert denn auch, dass es keine geschlossenen Räume von Nationalkirchen mehr gebe. Durch Migration sind diese aufgelöst worden. Da aber orthodoxe Gemeinden im Gegensatz zu Muslimen von der Politik der Aufnahmeländer kaum beachtet werden, gedeihen dort, vor allem in der serbischen Kirche, antiwestlicher und prorussischer Nationalismus. Doch auch in den Ländern selbst ist die Stellung der Kirche recht unterschiedlich: In Griechenland und Rumänien kommt ihr eine grosse politische Rolle zu, in Bulgarien ist sie marginal. Besonders in Rumänien, aber auch in Griechenland, kaum aber in Bulgarien besteht eine bedeutende Gruppe von christlichen Intellektuellen mit erheblichem Einfluss auf die öffentliche Debatte.

Die faktische Spaltung der orthodoxen Welt seit 2016 und der russische Angriffskrieg gegen die orthodoxe Ukraine seit 2022 haben die Orthodoxie insgesamt erschüttert. Innerhalb der orthodoxen Welt haben sich wichtige Akteure wie der Ökumenische Patriarch klar für die Ukraine und zugunsten eines Zusammengehens von Orthodoxie und der demokratischen Welt des Westens ausgesprochen.

Diese Signale sind bislang im Westen kaum aufgegriffen worden. Dabei ist das Potential eines intellektuell-politischen Dialogs mit der Orthodoxie in der EU und bei den derzeitigen Beitrittskandidaten gross. Dafür aber müssten die bislang im nationalen Raum ausgetragenen Debatten zusammengeführt werden. Auf der anderen Seite müssten die politischen Eliten im Westen die prowestlichen Akteure in der Orthodoxie als wichtige Partner zur Kenntnis nehmen und mit ihnen gemeinsam einen strukturierten Dialog aufnehmen. Das Ziel dabei wäre ein ebenso ehrgeiziges wie wichtiges: Die Orthodoxie ist mit der Welt des demokratischen Rechtstaats vereinbar. Die Orthodoxie wird nicht der «Russischen Welt» überlassen, die das Moskauer Regime propagiert. Im Gegenteil, eine in EU-Europa als wesentliche kulturelle Bereicherung empfundene Orthodoxie wird den Orthodoxen Russlands signalisieren, dass der Missbrauch von Religion und Kirche für Krieg und Gewalt nicht alternativlos ist. Als nach der russischen Februarrevolution 1917 russische Denker eine Reform der Kirche anstrebten, blickten sie in das habsburgische Siebenbürgen, wo die rumänische orthodoxe Kirche eine Verfassung mit demokratischen Strukturen aufgebaut hatte. Ein solches Modell hätte auch heute eine doppelte Funktion: die Stärkung der euro-atlantischen Integration und eine enorme Strahlkraft auf Russland.

Oliver Jens Schmitt
Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien

Quelle
Neue Zürcher Zeitung, Ausgabe vom 1. Juli 2023


Oliver Jens Schmitt

Oliver Jens Schmitt (geboren 1973 in Basel) ist ein Schweizer Osteuropa-Historiker.

Oliver Jens Schmitt studierte 1993 bis 2000 Byzantinistik, Neogräzistik und Osteuropäische Geschichte in Basel, Wien, Berlin und München und legte seine Diplomprüfung 1997 in Wien ab.

2005 wurde Schmitt Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien. Von 2010 bis 2014 war er Vorstand des Instituts für osteuropäische Geschichte. Seit 2011 ist er wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im April 2017 wurde er für die Funktionsperiode 1. Juli 2017 bis 30. Juni 2022 zum Präsidenten der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt.

Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Faschismus in Osteuropa im Rahmen der vergleichenden Faschismusforschung mit einem Schwerpunkt auf Rumänien, ostmediterrane Stadtgesellschaften im langen 19. Jahrhundert, Gesellschaft und Politik im spätosmanischen Reich, soziokulturelle Entwicklungen im albanischen Balkan (19. – 21. Jahrhundert), Gesellschafts­geschichte des venezianischen Überseereichs sowie die spätmittelalterliche Geschichte des Balkans.


Literatur

Oliver Jens Schmitt
SKANDERBEG
Der neue Alexander
auf dem Balkan
Fester Einband
432 Seiten
ISBN 978-3-7917-2229-0

Oliver Jens Schmitt
Handbuch zur Geschichte Südosteuropas / Herrschaft und Politik in Südosteuropa von 1300 bis 1800
Fester Einband
1108 Seiten
ISBN 978-3-1107-4394-4