Franz Hohler, beten Sie?

Interview mit dem Schriftsteller Franz Hohler

Die Aktion «Rosenbrunnen» erfreut auch Franz Hohler: Damit wollen die Zürcher Altstadtkirchen zu Ostern das neue Leben feiern: Aus den Dornen blühen Rosen.

Dieses Interview hat eine Vorgeschichte : An einem Sonntag vor rund drei Jahren hat die Journalistin die Sendung «52 beste Bücher» auf SRF Kultur gehört. Darin wurde das damals neueste Buch «Das Päckchen»* von Franz Hohler in einem Interview vorgestellt. Weil es darin um einen Benediktinermönch geht, der mit Frau und Kind von Kloster zu Kloster zieht, wurde der Buchautor gefragt: «Herr Hohler, sind Sie religiös?» Seine Antwort: «Heute am Sonntag, sage ich ja, wenn Sie mich morgen fragen, wäre es vielleicht nein». Diese Aussage hat die Journalistin stutzig gemacht und seither nicht mehr losgelassen, sie bat um eine Erklärung. Pandemie-verzögert fand nun das Gespräch mit Franz Hohler am vergangenen Karfreitag live im Kirchgemeindehaus «Zur Münz» in Zürich statt. Darin äussert sich der renommierte christkatholische Schriftsteller auch zu zeitgeistigen Fragen der Kirche.

Franz Hohler, warum sind Sie nur am Sonntag religiös?

FH: Die Antwort ist im Zusammenhang mit einer Lesung in Indien entstanden. Doch gibt sie auch das Bild meiner Unsicherheit dem Glauben gegenüber wieder.

Wie ist das zu interpretieren?

Ich bin durchaus religiös, aber ich bin nicht gläubig.

Was verstehen Sie darunter?

Gerade heute am Karfreitag ist die ganze Geschichte der Auferstehung und der Erlösung des Religionsverkünders aktuell, doch ich glaube sie nicht. Aber jeder denkende Mensch ist religiös: Man ist sich bewusst, nicht die oberste Instanz zu sein, dass es Mächte gibt, die wir nicht beeinflussen können und mit denen wir auf verschiedene Arten Kontakt suchen. Augustinus hat gesagt : Credo quia absurdum, mit anderen Worten: Der Glaube fängt dort an, wo die Vernunft aufhört, das ist durchaus magisch. Für mich persönlich betrachte ich den christlichen Glauben jedoch nicht als verbindlich.

Andererseits begegnen Sie uns immer wieder, gerade jeweils am Karfreitag oder zur Auferstehungsfeier in unserer Kirche. Ein Widerspruch?

Nein. Diesen kirchlichen Ritualen, die gegen unseren Alltag stehen, entziehe ich mich nicht. Der Karfreitag berührt mich immer sehr, stärker als der Ostersonntag, und zwar durch die Geschichte des Predigers Jesus, der sich gegen das damalige Establishment gewendet hat, indem er das neue Testament verkündete. Das war nicht mehr die ur-alttestamentliche Botschaft Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern die Botschaft der Nächstenliebe, eine Botschaft, die noch immer für die Kirche und für uns alle gilt. Dafür wurde er auf grausame Weise umgebracht.

Sie sehen in Jesus eher den Revoluzzer als den Heilsbringer?

Die Geschichte von Jesus, gegen den das Volk hetzte, das sich vehement für die Freilassung des Verbrechers Barnabas einsetzte, ist bis heute exemplarisch. Sie sagt, bis hin zum Verrat von Judas, sehr viel aus über unser gesellschaftliches Handeln. Eine Antwort von Jesus an Pilatus, die mich immer beeindruckte, lautet: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt». Heute sind wir dermassen «von dieser Welt» da ist es gut, wenn die Kirchen einen Kontrapunkt setzen.

Bei Lesungen und Interviews outen Sie sich oft als christkatholisch. Was bedeutet Ihnen die Kirchenzugehörigkeit?

Ich halte die Kirche, im Sinne der Botschaft Christi, nicht für überflüssig. Sie muss auch ein Engagement für das Lebendige bedeuten mit Mut zur Minderheit. Innerhalb der Landeskirchen ist die christkatholische Kirche eine Minderheit.

Bedauern Sie, dass die Kirchen jährlich Rekordzahlen an Austritten vermelden müssen?

(Überlegt lange) Es ist mehr ein Feststellen als ein Bedauern. Ich selber bin daran nicht unbeteiligt, weil wir unsere Söhne nicht getauft haben. Meine Frau und ich wollten ihnen nicht vorgeben, was sie glauben müssen. Ich kann das Glaubensbekenntnis nicht mitsprechen, also kann ich die Söhne nicht taufen, damit sie an etwas glauben, woran ich selber nicht glaube. Sie haben allerdings am Religionsunterricht teilgenommen, auch aus kulturellen Gründen. In der Geschichte ist mit dem Glaubensbefehl viel zuviel Unheil angerichtet worden, es wurden Menschen verbrannt und Kriege angezettelt: Damit wurde die Kirche zu einer weltlichen Macht, die mit dem spirituellen Denken von Christus nichts mehr gemein hat.

Franz Hohler vor dem Augustiner: «Den kirchlichen Ritualen entziehe ich mich nicht».

Sie lehnen das Doktrinäre im Glauben ab?

Ja, das wurde zwar mit der Reformation ein Stück weit aufgeweicht, wurde aber bald zu einer neuen Doktrin. Ich denke allerdings, die reformierte Kirche lebt heute den freiheitlichsten Gottes- und Religionsbegriff.

Trotzdem sind die Kirchenaustritte, bei den Reformierten, zumindest im Kanton Zürich, am häufigsten.

Freiheitlich ist nahe bei unverbindlich. Jeder Austritt stellt die Kirche als Institution in Frage, sie wird eher wie ein Verein angesehen. Die Leute gehen am Sonntag nicht mehr in den Gottesdienst, sie machen stattdessen Ausflüge oder sonst etwas.

Säkulare Action kontra Gottesdienst?

Es gibt fast nur noch Action – wir leben in einer Epoche der Säkularisierung. Interessant ist aber, welchen Zulauf gleichzeitig neue freikirchliche Bewegungen oder östliche Religionen und esoterische Gruppen haben.

Müsste man die Gottesdienste «modernisieren». Z.B. mit Jazz oder Rockpop?

Persönlich mag ich die archaischen liturgischen Formen, aber ein Gottesdienst darf nicht in den Formen erstarren. Der Inhalt muss lebendig bleiben, dann ist die Form weniger wichtig. Mir ist Orgelmusik in der Kirche lieber als Rock und Pop. In der Augustinerkirche haben wir übrigens mit Merit Eichhorn eine fantastische Künstlerin – ihre Improvisationen sind wunderbar.

Besuchen Sie auch virtuelle Gottesdienste?

Mit den virtuellen Gottesdiensten, die jetzt infolge der Pandemie Aufwind haben, kann ich nicht viel anfangen. Die Reihe «Psalm und Musik», die mir jeweils am Samstag von den Zürcher Geistlichen gemailt wird, ist für mich die bessere Form. Ähnlich einem Hörspiel: Es muss nicht zu allem ein Bild geben.

Wie erleben Sie als Schriftsteller den digitalen Wandel?

Jeder einigermassen anerkannte Verlag kommt nicht darum herum, die Bücher auch als E-Book, also in der digitalen Form, anzubieten.

Sie lesen mittlerweile E-Book?

Nein, ich selber ziehe das Buch vor. Aber E-Book erlaubt einem Entwicklungshelfer, der irgendwo in der Welt tätig ist, sofort ein Buch seiner Wahl zu bestellen und zu lesen. Das ist ein schöner Vorteil.

Sie kaufen Ihre Bücher…

(unterbricht und klopft …nachdrücklich auf den Tisch) in der Buchhandlung. Ich habe noch nie ein Buch bei Amazon bestellt – die haben furchtbare Arbeitsbedingungen.

Was lesen Sie derzeit?

Den neuen Roman von Lukas Hartmann «Schattentanz» in dem er den seltsamen Lebensstil des Schweizer Malers und Musikers Louis Soutter beschreibt, der höchstens bei seinem Cousin Le Corbusier auf ein gewisses Verständnis stiess. Hartmann schreibt sehr gute Romane über spezielle Menschen.

Zurückkommend auf die Häufigkeit der Kirchenaustritte: Bedauern Sie die Erosion?

Wie gesagt, es ist eher eine Feststellung, aber ich denke an den Satz, der wohl von einem amerikanischen Schriftsteller stammt: «I don’t believe in God – but I miss him» (Anm. der Red.: «Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn»). Das würde ich jederzeit unterschreiben.

Warum?

Weil ein gelebter Glaube Geborgenheit vermitteln kann. Darüber habe ich viel nachgedacht, aber ich kann dieser Sehnsucht nicht folgen, weil ich den ganzen kirchlichen Rahmen in Frage stelle – gleichzeitig liegt darin natürlich auch ein Stück Bedauern.

Hat die Kirche etwas versäumt?

Wahrscheinlich schon. Es braucht mehr Menschen, die einen Weg finden, die christlichen Gedanken so auszudrücken, dass sie etwas bedeuten.

In dem christliche Grundwerte vermittelt werden?

Natürlich, wenn man sie auch ehrlich lebt und dazu stehen kann.

Sie haben eingangs die Nächstenliebe als höchsten Wert genannt. Gelten die weiteren neun Gebote nicht als Basis?

Mir liegt das Vaterunser näher als die zehn Gebote mit ihrem «Du sollst» und «Du sollst nicht». Christliche Grundwerte, wie die Nächstenliebe, kann man auch ohne religiösen Überbau vertreten. Damit meine ich einen Gott, der seinen Sohn in den Tod schickt, um die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen. Das hat mir nie eingeleuchtet. Wieso brauchen wir das ? Unsere Sünden können wir selbst bewirtschaften, wenn wir auf unser Gewissen hören.

Gottes Sohn als Vorbild unendlicher Liebe zu den Menschen.

Kann sein. Ich werde nur widerspenstig, wenn man mir den Glauben befiehlt. Ich kenne genug fromme Menschen, die ich respektiere, solange ich spüre, dass es ehrlich ist und für sie stimmt. Auch im Gebet.

Beten Sie?

Fast nie. Im ersten «Club» (SRF am 17. März 2020, Anm. der Red.), in dem die Pandemie Thema war, wurde in der Schlussrunde gefragt, was jetzt zu machen wäre, da habe ich geantwortet: «Vielleicht hilft auch ein Gebet». Das hat viele erstaunt, ich habe Briefe erhalten, die mich dafür geradezu umarmt haben.

Das heisst, Sie glauben doch an die Kraft des Gebets?

Ja. Ein Gebet ist immer auch ein Gespräch mit sich selber, und ich traue dem Gebet eine Wirkung zu. Keine vertikale, sondern eine horizontale: Für jemanden zu beten, bedeutet, dass man an ihn denkt. Ich zünde auch Kerzen an, wenn ich weiss, jemand braucht das, oder über Nacht, wenn jemand im Sterben liegt. Das sind Zeichen, in denen auch eine Kraft steckt. Ein Gebet gibt Energien weiter. Vater unser: Diese Ansprache öffnet die Türen zum Gebet.

Persönlich gefragt: Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ein Erzählband mit dem Titel «Der Enkeltrick», er soll im kommenden Herbst erscheinen – ich bin eben daran, ihn fertig zu stellen.

Und noch eine weltliche Frage: In den Siebziger Jahren kämpften Sie an vorderster Front gegen AKWs. Macht Sie der jetzige Abbau Mühleberg glücklich?

Glücklich wäre zu schön gesagt. Ein abgestelltes AKW hinterlässt noch in tausenden von Jahren radioaktive Abfälle. Aber es war eine Befriedigung, dazu gehört auch der Beschluss des Bundesrats, nach Fukushima keine AKWs mehr zu bauen. Dafür habe ich mich eingesetzt. Mich befriedigt aber auch, dass eine Minderheitenposition, wie wir sie damals vertraten, zu einer Mehrheitsfähigkeit heranwachsen konnte. Das ist ja letztlich auch im Christentum passiert: Diese Urchristen hatten genügend Strahl- und Überzeugungskraft und Opferbereitschaft, um das Christentum zu einer Weltreligion zu machen.

Text und Bilder
Monique Henrich

*Spannend und lesevergnüglich zugleich : «Da sPäckchen» von Franz Hohler ist im Verlag Luchterhand erschienen. ISBN 978-3-630-87559-0