Mutter Erde oder Vater Himmel

Ökologische Krise und die Mitverantwortung des Glaubens

«Wer nur gelernt hat, ‹ich› zu sagen, kann mit der ökologischen Katastrophe, in der wir sind und die wir ansteuern, nur in hilfloser Betroffenheit umgehen,» verdeutlichte Dorothee Sölle. Foto: iStock

«Warum haben die christlichen Kirchen Mutter Erde vergessen und sich nur auf Vater Himmel fokussiert?» So fragte vor ein paar Wochen eine Leserin in der Rubrik «spiritueller Brief­kasten» der Zeitschrift des SKF Schweizerischen Katholischen Frauenbundes. Die Frage trifft. Sie stösst mitten in unser abendländisches Wertesystem und fragt nach den tiefer­liegen­den Gründen der gegenwärtigen ökologischen Krise und der Mitverantwortung des Glaubens.

Ja, warum – warum dieser Drang nach oben, in die lichten Sphären des Himmels? Dorthin, wo wir alles überblicken, leichtfüssig schweben? Warum dieser Drang, die Schwerkraft hinter sich zu lassen, die Herkunft, die Enge des Geburtskanals, das Seufzen der Erde, das Lachen der Kinder, das Lieben und Arbeiten? Und wer ist es, der diesem Begehren frönt, sich abzusetzen, diesem Traum, den Raum gegenseitiger Abhängigkeiten zu verlassen auf absolute Freiheit hin?

Auf die Erde verwiesen

Hildegard von Bingen (1098–1179) riet im Hochmittelalter noch zum zweifachen Blick. Wer auf Gott blicke, schaue zur Erde:

«Wer seinem Gott vertraut, wird auch den Bestand der Welt ehren; den Lauf von Sonne und Mond, Wind und Luft, Erde und Wasser, alles, was Gott um der Ehre des Menschen geschaffen hat und zu seinem Schutz. Einen anderen Halt hat der Mensch nicht.» 

Himmel und Erde lassen sich bei Hildegard nicht auseinandernehmen. Der Mensch ist Teil einer Ordnung; eingebunden in ein grosses Ganzes trägt er Himmel und Erde in sich. In allem, was Menschen tun, begegnen sie Gott und Gottes schöpferischem Wirken. So antwortete Hildegard auf die spöttische Frage der Agnostiker ihrer Zeit, also der Menschen, die sich sagen, dass die Existenz eines Gottes schon angenommen werden kann, doch nicht vom Verstand aus zu klären und schon gar nicht zu erkennen ist. Hildegard reagierte auf die Kritik nicht mit Theologie und nicht mit geistiger Literatur. Sie verwies ganz einfach auf die Natur, indem sie Gott sagen liess:

«Seht ihr Mich denn nicht Tag und Nacht? Seht ihr Mich nicht, wenn ihr sät und wenn die Saat aufgeht, von Meinem Regen benetzt?» 

«Teile und herrsche»

Es war der Herrschaftsanspruch, der sich in der Neuzeit durch Technik und Technologie mehr und mehr Bahn brach, der die Zusammengehörigkeit von Himmel und Erde aufkündigte. «Teile und herrsche», lautete seit jeher der Leitspruch der Mächtigen. Alles wurde auseinandergerissen und gegeneinander ausgespielt: Schöpfer und Geschöpf, Himmel und Erde, Geist und Materie, Vernunft und Seele, Mann und Frau. Durch Abgrenzung und Abwertung entstand ein kompliziertes System, wo das Oben und Unten genau festgelegt war, das der Logik der Herrschaft folgte und die Verbundenheit verdrängte. Die Frau wurde – als der Natur näher – unten eingeordnet, ebenso die sogenannt Wilden: Beide bedürfen der Führung durch den männlichen Geist, da sie weniger fähig seien, die Vernunft walten zu lassen und sich als moralisch leicht verführbar zeigten.

Das Naturverhältnis veränderte sich über die Jahrhunderte merklich. Hildegard beschrieb die Erkenntnis der Welt als einen Akt, bei dem Geist und Herz beteiligt seien, und verglich sie gar mit einer liebenden Umarmung. In der aufkommenden Neuzeit sprach man dagegen teilweise davon, man müsse die Natur auf die Folter spannen, damit sie ihre Geheimnisse preisgebe. Das Denken und Forschen geschah von einem zunehmend imperialistischen Standpunkt. Die Wissenschaft, so formulierte es René Descartes (1596–1650), muss uns zu «Herren und Besitzern der Natur» machen.

Damit spielte er auch auf den biblischen Schöpfungsauftrag im Ersten Buch Mose an (Gen 1,26). Descartes ist natürlich nicht für die gesamte neuzeitliche Entwicklung verantwortlich. So bemerkt der Schweizer Philosoph Dominik Perler: «Wenn Descartes die Menschen ‹maîtres de la nature› nennt, kürt er sie nicht zu Herrschern, sondern er fordert sie auf, Meister der Natur zu werden – Meister, die wie ein Handwerksmeister durch gründliches Naturstudium ein bestimmtes Wissen und eine Fertigkeit erworben haben. Er setzt Tiere auch nicht mit Maschinen gleich, sondern schreibt ihnen durchaus Schmerzen und damit auch Leidensfähigkeit zu.»

Himmel und Erde lassen sich bei ­Hildegard nicht auseinandernehmen. Der Mensch ist Teil einer Ordnung; eingebunden in ein grosses Ganzes trägt er Himmel und Erde in sich. Foto: iStock

Theologische Wurzeln der Herrschaft über die Natur

Das Grunddatum des biblischen Glaubens ist der Auszug aus Ägypten und die Befreiung der Israelit:innen aus der Sklaverei. Das heisst, der biblische Glaube wurzelt in einem geschichtlichen Ereignis und nicht in erster Linie in der Überzeugung, dass Gott der Schöpfer des Universums ist. Die Schöpfungsgeschichten im ersten und zweiten Kapitel des Ersten Buches Moses entstehen beide später als das Zweite Buch Moses. Sie halten fest, dass der befreiende Gott auch die schöpferische Gottheit sei, GOTT, der Himmel und Erde erschaffen habe und allem Lebendigen Atem schenke.

Verzerrende Interpretationen der Schöpfungsgeschichten

Sonne und Mond verlieren in der ersten Schöpfungserzählung den göttlichen Status, den sie in den babylonischen Schöpfungsmythen noch innehatten. Die Menschen wiederum werden nicht als Arbeitssklaven und -sklavinnen der Götter geschaffen. Sie sind Gottes Stellvertreter:innen und haben Anteil an der schöpferischen Lebensmacht. Doch die befreienden Elemente von Genesis 1 wurden in der Überlieferung durch einseitige und patriarchale Lesarten verzerrt.

Die traditionelle Rede vom Sechstagewerk beispielsweise, machte die Erschaffung des Menschen zum Höhepunkt der Schöpfung – der Mensch (Mann) als Krone der Schöpfung – und blendete den siebten Tag, den Schabbat, aus. GOTT tut nicht nichts am siebten Tag: Er schafft einen Raum der Begegnung, einen Raum, der menschlicher Verfügungsmacht entzogen ist. In der Heiligung und Segnung kommt die Schöpfung an ihr Ziel.

Überbetonung der Transzendenz Gottes

Genesis 1 unterscheidet den Menschen von den Tieren und der übrigen Natur und gibt ihm einen besonderen Auftrag. Der Formulierung nach ist es kein sanftes Hüten – wie in Genesis 2,15 – sondern ein mitunter hartes Herrschen, das dem Menschen aufgetragen wird. Die Bibelwissenschaftler Sabine und Klaus Bieberstein deuten es im Sinne einer Fortführung des Schöpfungswerkes als ein Zurückweisen der Chaosmächte und der «grossen Tiere», die Leben bedrohen.

Die Besonderheit des Menschen wurde in der Auslegungsgeschichte – entgegen der biblischen Erzählung – überbetont. Dies führte dazu, dass die kreatürliche Verbundenheit der Menschen mit den Tieren und Pflanzen, mit denen sie Verletzlichkeit und Vergänglichkeit teilen, mehr und mehr in den Hintergrund trat. Diese Tendenz, die Menschen von den anderen Kreaturen abzusetzen, hängt mit einer anderen einseitigen Entwicklung zusammen: der Überbetonung der Transzendenz Gottes.

Die Schöpfungserzählung unterscheidet Gott, den Schöpfer, von seiner Schöpfung. Die abendländische Theologie betonte die Verschiedenheit Gottes von der Welt übermässig. Sie betont die Transzendenz Gottes, seine Unergründlichkeit und Jenseitigkeit, in einer solch absoluten Weise, dass es einem Rückzug Gottes von der Welt gleichkam. Die Unterscheidung entwickelte sich zur Trennung: Gott erschien als absolut transzendenter, nicht mit menschlichen Sinnen wahrnehmbarer, beziehungsloser Herr im Himmel. Unabhängigkeit wurde so zu einem Ausdruck göttlicher Grösse erklärt und legitimierte die patriarchalen Ideale des einsamen Kriegers und stoischen Helden.

Schöpfungsspiritualität

Hildegard von Bingen beschrieb die Erkenntnis der Welt als einen Akt, bei dem Geist und Herz beteiligt seien, und verglich sie gar mit einer liebenden Umarmung. Foto: iStock

Wer braucht einen solchen Gott, der in absoluter Freiheit und Abgeschiedenheit im Himmel thront? Die Armen und Schwachen wohl kaum. Es ist kein Zufall, dass es die franziskanische Armutsbewegung und die Mystiker:innen sind, die das Lob der Schöpfung durch die Jahrhunderte lebten und überlieferten. Wir sind Teil eines Ganzen und brauchen Gott im Himmel und auf Erden, als Vater und als Mutter, als Windhauch und als Grünkraft.

Eine Schöpfungsspiritualität – so sei zum Schluss kurz skizziert – betont die gegenseitige Abhängigkeit und Bezogenheit von allem, was ist. Die Natur ist keine Sache, über die wir beliebig verfügen, die wir beliebig produzieren können. Wasser ist nicht das Privateigentum einiger Konzerne. Eine ökologische Spiritualität betont weiter die Angewiesenheit aller aufeinander und pflegt und schätzt Gemeinschaft. «Wer nur gelernt hat, ‹ich› zu sagen, kann mit der ökologischen Katastrophe, in der wir sind und die wir ansteuern, nur in hilfloser Betroffenheit umgehen,» verdeutlichte Dorothee Sölle.

Mut machen die vielen generationenübergreifenden Projekte, die Initiativen des Teilens, interreligiöse und Friedens-Netzwerke oder auch die Bewegung des Minimalismus, die aufruft, sich auf das Notwenidge und Einfache zu beschränken. Die Frage gewinnt Raum, was uns, dem Nachbarn und Fremden zum Leben wichtig ist. Es kann möglich werden darauf eine Antwort zu finden und den Lebensweg danach auszurichten.

Angela Büchel Sladkovic
www.glaubenssache-online.ch