Zusammenleben in Zeiten von Corona

Bettagsmandat des Regierungsrats des Kantons Aargau

Der Regierungsrat und die Landeskirchen des Kantons Aargau geben jedes Jahr zum Eidgenössischen Bettag abwechselnd einen Aufruf an die Aargauer Bevölkerung heraus.

Der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez hat ein wunderbares Buch geschrieben mit dem Titel «Die Liebe in den Zeiten der Cholera». Es ist eine berührende, lebenslange Liebesgeschichte, die damit endet, dass der gealterte Florentino auf der Hochzeitsreise auf dem Flussdampfer die gelbe Cholera-Flagge hisst, um endlich mit seiner Angebeteten Fermina allein sein zu können.

In den letzten anderthalb Jahren musste die Menschheit in den Zeiten des Coronavirus leben. In Zeiten, die auch sehr viel Stoff für Bücher boten und bieten – nicht nur für Liebesgeschichten. Die Pandemie hat das Zusammenleben der Menschen in der ganzen Welt, in unserem Lande, in unserem Kanton geprägt wie kaum ein Ereignis in den letzten 50 Jahren zuvor – und tut dies immer noch.

Das heimtückische Virus forderte weltweit bisher fast vier Millionen Todesopfer. Eine hohe Zahl an Mitmenschen erkrankte auch im Kanton Aargau, eine zu hohe Zahl, viele verloren gar ihr Leben. Am heutigen Eidgenössischen Buss- und Bettag gedenken wir der Verstorbenen und wünschen den immer noch unter der Krankheit leidenden Mitmenschen rasche und vollständige Genesung.

Die Coronavirus-Pandemie brach Anfang 2020 schockartig mit vielen Ungewissheiten und Unsicherheiten über uns herein. Normalerweise leben wir ja gerne mit der Vorstellung, alles in unserem Leben, in unserem Tun und Lassen, rational kontrollieren und bestimmen zu können. Wir leben in einer durchorganisierten, digitalisierten, globalisierten und vernetzten Welt – oder glauben es zumindest. Und plötzlich geriet unser vermeintlich unerschütterliches Gefüge von Sicherheit, Wissen und Kontrolle innert kürzester Zeit ins Wanken.

Die für die Krisenbewältigung verantwortlichen Gremien und Personen mussten oft aufgrund von spärlichen und wenig gesicherten Informationen innerhalb kürzester Zeit Entscheide von höchster Tragweite treffen, die manchmal auch mit Leben und Tod zusammenhingen. Dabei bewegten sich die Verantwortlichen meistens im Spannungsfeld zwischen der Wahrung persönlicher Grundfreiheiten und -rechte, wirtschaftlichen Interessen und Überlegungen sowie – vor allem – dem Schutz von Gesundheit, Leib und Leben der Mitmenschen.

Die Auswirkungen der nach gründlicher Abwägung getroffenen Entscheide erforderten von vielen Menschen grosse persönliche, zum Teil auch gemeinschaftliche Opfer; zum Beispiel durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und vieler anderer Freiheiten. Und in der Wirtschaft erlitten viele Arbeitgebende und Arbeitnehmende schmerzliche Einbussen, einige Branchen fürchteten um ihre Existenz.

Nach anderthalb Jahren darf aber auch festgestellt werden, dass unsere Gemeinschaft an den enormen Herausforderungen nicht zerbrochen, sondern gewachsen ist. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat die zum Schutz von besonders gefährdeten Mitmenschen notwendigen Entbehrungen mit bewundernswerter Solidarität und grossem Verständnis mitgetragen, zunehmend auch miterdauert.

Überaus viele Menschen und Institutionen haben einander überaus viel geholfen: mit Nachbarschaftshilfe, im Pflege- und Betreuungsdienst, beim Schulunterricht, an der Kasse des Lebensmittelladens, mit Härtefallhilfe usw.
Der Regierungsrat dankt all denen, die mit ihrer aktiven Mithilfe, ihrem Mittragen, ihrem Erdauern, ihrer Solidarität mitgeholfen haben, die schwierige Zeit zu meistern. Er dankt speziell auch allen, die bei der Krisenbewältigung zuvorderst im Einsatz standen und oft bis an die Grenzen ihrer Kräfte gefordert wurden; zum Beispiel in Spitälern, Pflege- und Betreuungseinrichtungen.
Alles und alle zusammen bildeten ein starkes Netz, das viel Not, viel Leid und viel Unheil auffangen oder zumindest abfedern konnte.

Nach der Bewältigung der Coronavirus-Pandemie müssen wir darüber nachdenken, was sich mittel- und längerfristig verändern muss, damit wir uns vor einer solchen Verletzlichkeit besser schützen können – als einzelne Menschen, als Gemeinschaft und Gesellschaft, als Staat und Kanton.
Einfach bestehende Kapazitäten und Quantitäten zu erhöhen, das Bisherige und Bestehende auszubauen oder zu verbessern, wird vermutlich nicht reichen. Es braucht einen gesellschaftlichen und politischen Prozess, einen gesellschaftspolitischen Dialog, in den sich unter anderem auch die Landeskirchen mit wertvollen Beiträge einbringen können.

Wir werden wohl auch im Kanton Aargau neue Kapitel aufzuschlagen, wenn nicht gar ein neues Buch zu schreiben haben – vielleicht mit dem Titel «Das Zusammenleben in den Zeiten nach dem Coronavirus». Dabei werden wir in der Diskussion über wichtige Fragen Flagge hissen beziehungsweise zeigen müssen – wie die Romanfigur Florentino von Gabriel García Márquez… – aber nicht, um sich abzugrenzen, sondern um gemeinsam nach Lösungen und Wegen zu suchen.

Regierungsrat Aargau