Die Kastanie – nicht nur Lebensmittel, sondern auch Medizin

Protagonistin von Kinderreimen, Sprichwörtern und Liedern.

Klein, stachelig gepanzert, aber sanftmütig. Sind das vielleicht die Tessinerinnen und Tessiner? Das mag sein. Vielleicht sind sie nach dem Vorbild der Frucht geformt, die sie seit Jahrhunderten ernährt hat: die Kastanie. Die Kastanien waren für die Tessiner das Pendant zur Kartoffel für die Iren.

Im Tessin ist die Kastanie seit Jahrhunderten ein wichtiger Bestandteil der bäuerlichen Ernährung. Im Herbst ist das Wandern durch die Kastanienwälder ein ganz besonderes Erlebnis.
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Gerade wegen der Bedeutung dieser Frucht und ihrer Bäume werden seit Jahren Anstrengungen unternommen, um sie als Teil der lokalen Geschichte zu fördern. Jedes Jahr nimmt die Kastanie einen wichtigen Platz bei den gastronomischen Festen dieser Zeit im Tessin ein und es werden neue Kastanienprodukte entwickelt (Bier, Flocken, Marrons glacés, Nudeln, Mehl, Liköre, Honig). Jedes Jahr im Herbst versammeln sich Touristen und Einheimische auf den Plätzen, um das traditionelle Kastanienfest zu feiern.

Der Herbst wird oft als eine melancholische und traurige Jahreszeit beschrieben. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Ein Tag, drei Herbste. Es wird verwendet, wenn man jemanden so sehr vermisst, dass ein Tag wie drei Jahre wirkt. Doch anders als man meinen könnte, trägt diese Jahreszeit, die den Sonnenuntergang, die Ankunft des Winters vorbereitet, einen vielversprechenden Namen. Die Wortbedeutung weist auf eine Zeit hin, in der die Natur selbst und die menschliche Arbeit ihre Früchte hervorbringen. Eine Jahreszeit, die den Landwirt bereichert: die Erntezeit. In den lateinischen Sprachen leitet sich der Name des Herbstes bezeichnenderweise vom lateinischen Verb augere ‚vermehren, bereichern‘ ab. Und zu dieser Jahreszeit ist das Tessin wunderschön. Der Herbst im Tessin lädt dazu ein, die Natur und ihre Farbenpracht zu geniessen. Wenn die Temperaturen noch mild sind, färben sich die Laubwälder goldgelb, orange und rot, in den Kellern ist es Zeit, die Weine zu verkosten, und Kastanienschalen bedecken zahlreich den Waldboden.

Im Tessin ist die Kastanie seit Jahrhunderten ein wichtiger Bestandteil der bäuerlichen Ernährung. Die Ernte war ein Ereignis, an dem die ganze Gemeinschaft beteiligt war, und sie war ein wichtiger Moment, denn davon hing die Ernährung für einen grossen Teil des Jahres ab. Aus dem Tessin kamen die «Maronatt», die während der Wintersaison in den Städten Italiens, der Schweiz und Frankreichs auf der Strasse Kastanien verkauften.

Frucht, Blatt, Zweig und Holz

Die Kastanie, die in sonnigen Lagen zwischen 200 und 1000 Metern über dem Meeresspiegel wächst, wurde in der Vergangenheit wegen ihrer Bedeutung als «Brotbaum» («albero del pane») bezeichnet. Neben den Früchten wurde alles verwendet, was der Baum hergab: Die getrockneten Blätter dienten als Einstreu für das Vieh im Stall, das Holz war Brennstoff und Material für den Bau von Häusern, Möbeln und Weinfässern, während die biegsameren Zweige zu Körben und Kisten geflochten wurden. Die Wälder waren ein wertvolles Gut und wurden nach genauen kommunalen und bürgerschaftlichen Vorschriften gepflegt. Es wurden verschiedene Kastaniensorten angepflanzt; heute gibt es im Tessin mehr als 100 verschiedene davon. Aber auch von den Kastanien konnte man alles gebrauchen: Diejenigen, die zu klein oder faul waren, wurden an die Tiere verfüttert, und die Reste wurden um die Kastanien gewickelt, um sie vor Feuchtigkeit zu schützen, oder sie dienten als Brennmaterial, das ins Feuer geworfen wurde.

Da die Kastanien leicht von Schimmel und Maden befallen werden konnten, wurden sie getrocknet, um sie mehrere Monate lang zu lagern, oder zu Mehl für die Brotherstellung gemahlen. Eine der am weitesten verbreiteten Konservierungsmethoden im Tessin war die Räuchertrocknung auf einem Spalier (die sogenannte «grà»). Im Tessin gibt es noch viele «grà», kleine zweistöckige Steinhütten: Die Kastanien wurden auf das Spalier gelegt und darunter ein ständig geschürtes Feuer angezündet, um wochenlang eine konstante Wärme zu gewährleisten, zubereitet mit Kastanienholz, das die Früchte langsam trocknen liess, damit sie lange gelagert werden konnten.

Eine weitere alte Methode der Bewahrung war die Novene. Die frisch geernteten Früchte wurden einige Tage lang in Wasser eingelegt und dann in der Sonne getrocknet. Dank dieses einfachen Verfahrens konnten die Kastanien den ganzen Winter über aufbewahrt werden. Durch Umrühren und Wasserwechsel bis zum neunten Tag (daher der Name) steigen nicht nur die faulen Früchte, sondern auch der Sauerstoff in den Kastanien an die Oberfläche und werden ausgeschieden. Auf diese Weise sterben Mikro­organismen, Schimmelpilze und Larven aufgrund des Sauerstoffmangels ab. Nach dem neunten Tag werden sie zum Trocknen in die Sonne gelegt. Nicht nur Lebensmittel, sondern auch Medizin. Bereits in mittelalterlichen Handbüchern finden sich Hinweise auf Kastanienextrakte und -aufgüsse zur Behandlung verschiedener Beschwerden: Die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) zählte die Kastanie zu den sechzehn besten Naturheilmitteln und schlug Rezepte auf der Grundlage von Früchten, Schalen, Blättern, Rinde und Holz vor.

Die Kastanie
ist Teil der Volkskultur und der Tradition der Tessiner Bevölkerung. Im Bild das Dorf Corippo im Verzascatal.
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Gedenken an die Toten

Dieses Lebensmittel ist Teil der Volkskultur und der Tradition der Tessiner Bevölkerung. Zum Gedenken an die Verstorbenen wurde eine Portion gerösteter oder gekochter Kastanien mit etwas Wasser oder Wein für die Toten aufbewahrt, welche kommen würden, um sie zu essen. Wenn nichts mehr übrig war, glaubte man, dass die Toten zurückkehren würden, um die Menschen zu verscheuchen oder sie sogar mitzunehmen.

Im Mendrisiotto bastelten die Mädchen Kränze, indem sie frische Kastanien aneinanderreihten. Nach dem Trocknen wurden sie an junge Männer oder Freunde verschenkt, die im Winter zu Besuch kamen.

In Pazzallo wurden am ersten Abend des neuen Jahres Glückskastanien zubereitet, die so genannt wurden, weil das Familienoberhaupt vor dem Kochen eine Münze unter die Schale legte und derjenige, der sie fand, das ganze Jahr über Glück haben sollte.

Eine weitere wichtige Tradition ist das Baumfest, ein Fest, das die Primarschulen des Kantons betrifft. Die Kinder pflanzten Hunderte von Kastaniensetzlingen, um einen Teil der gefällten Bäume zu ersetzen, und lernten dabei etwas über die Pflanze und ihre Pflege, so wie es ihre Vorfahren seit Jahrhunderten getan hatten. Seit Jahren werden monumentale Kastanienbäume inventarisiert (einige Bäume haben ein ehrwürdiges Alter von 500 Jahren), und einige Kastanienhaine wurden zurückgewonnen.

Grundlage für Mythen

Die Kastanie ist der Protagonist von Kinderreimen, Sprichwörtern und Liedern. Aber ganz besonders liebe ich diese Geschichte «Der Kastanienigel» («Il riccio delle castagne») aus dem Buch «Unsere Wälder», Istituto editoriale ticinese, Bellinzona, 1934, die ich nun mit Freude mitteilen möchte.

«Es gab eine Zeit, als die Kastanien der riesigen Kastanienbäume im Tessiner Vedeggio-Tal keine stachelige Schalen hatten, sondern glatte, goldenen Kugeln bildeten. Diese kleinen Bälle fielen jeweils von selbst hinab. Der Bauer pflückte eine nach der anderen, hielt sie in der Hand und drei glänzende Kastanien schlüpften aus der aufgebrochenen Schale. Sehr lecker! Eine wahre Vorsehung. Alle Vedeggio-Einwohner lebten glücklich bis ins hohe Alter; dann gingen sie, gefangen im süssen Tod, in die Ewigkeit, um den Lohn ihres gut gelebten Lebens zu geniessen. Lange Zeit sah der Teufel keine Seelen aus Vedeggio in die Hölle hinabsteigen. Dies verwirrte ihn, und er trat aus seiner Höhle hervor, um den Zustand der Vollkommenheit dieser Talbewohner zu erkennen. Der Oktober neigte sich dem Ende zu und die Familien waren in aller Ruhe mit der Kastanienernte beschäftigt. Während Erwachsene und Kinder die Schalen zusammendrückten, um die Früchte herauszuholen, schaute der Teufel böse zu und liess mit böser Kunst eine Vielzahl von kurzen, stacheligen Stacheln auf jeder Hülle spriessen. Lästernd und fluchend vor schmerzhaften Stichen öffneten die Sammler und Pflücker schnell ihre Hände und sahen in ihren blutverschmierten Handflächen einen struppigen Igel stecken. Seit jenem fernen Herbst waren die Kastanien in einen Igel gekleidet, der so borstig und dicht war, dass es keinen Ausweg gab. Der Teufel aber war glücklich, dass er in den Dörfern von Vedeggio so viele Menschenleben ernten konnte.

Viele Jahre später schaute Gott, der Herr, aus dem Fenster des Paradieses, welches den mittleren Teil des Vedeggio Gebiets überblickte, und er sah, dass von dort keine Geister mehr zu ihm flogen. Es war Herbst. Gott sah auch seine in stacheligen Schalen gefangenen Kastanien, und er segnete sie, indem er mit seiner rechten Hand das Zeichen des Kreuzes machte. So wurde dieses Zeichen in die Kastanien geätzt, und Gott öffnete sie mit einem Schnitt, der einen anderen kreuzte. Und die Kastanien begannen aus ihren Schalen zu fallen.

So kam die Vorsehung den Luganern wieder einmal zu Hilfe, und von der teuflischen Niedertracht blieb nur die dornige Schale übrig, die zu nichts taugte.»

Elisabetta Tisi
für die Tessiner Gemeinde