Fenster des Betens

«Als Daniel erfuhr, dass der Erlass abgefasst worden war,
ging er in sein Haus.
Im Obergeschoss hatte er ein Fenster in Richtung Jerusalem.
Dreimal täglich kniete er dort nieder,
um seinen Gott zu preisen und seine Bitten vor ihn zu bringen.
So tat er es auch jetzt». (Daniel 6,10-11)

Daniel, der biblische Prophet, sieht das Schreckliche kommen.
Sein Volk, seine Liebsten sind bedroht.
Seine Gefährten, seine Freunde. Alle.
Die tödliche Falle ist aufgestellt:
Wer nicht die fremden Götter verehrt,
verliert das Leben. Gnadenlos. Ohne Ausnahme!
Dem Einzigen und Wahren, dem Gott des Lebens,
dem Gott seines Volkes soll niemand mehr dienen.
Der Zwang gilt für alle und jeden.
Frauen, Männer, Kinder,
– alle müssen den Abgöttern der Zwingherren opfern.
Aussichtslos. Keine Chance. Unrettbar.
Gefahr. Unüberwindlich.

Daniel kennt keine gelenkige Lösung.
Er hat keinen schnellen Plan zur Befreiung.
Kein geschicktes Manöver, kein trickreicher Ausweg.
Doch er hat ein Fenster: Sein Jerusalem-Fenster.
Die Öffnung zum Heil, – da lebt seine Zuversicht.
Vielleicht bleibt nur ein Riss in der Wand des Bösen.
Nur ein schmaler Spalt, in der Mauer des Dunkel.
Doch mehr braucht die Hoffnung nicht.
Eine kleine Lücke im Machtpanzer nährt das Vertrauen.
Der Lichtblick, von dem der Widerstand lebt.
Wo immer ein Mensch sei, was immer er tue,
es braucht das Fenster namenloser Sehnsucht.

Das Fenster des Herzens, das Weite erschafft.
Das Fenster, das sich im Beten nur öffnet.

Michael Bangert

Bild: Detail aus einem Fresko mit Szenen aus dem Leben des Dominikaners Petrus Martyr. Predigerkirche Basel, Nordwand., Ende 14. Jahrhundert.