Aufsprossen im Geist Gottes, wie Schilf

«Auslegungssache» zu Pfingsten von Pfr. Daniel Konrad

 

Lesung Jesaja 44,1-4

Jetzt aber höre, Jakob, mein Knecht, Israel, den ich erwählte. So spricht der Herr, dein Schöpfer, der dich im Mutterleib geformt hat, der dir hilft: Fürchte dich nicht, Jakob, mein Knecht, du, Jeschurun, den ich erwählte. Denn ich giesse Wasser auf den dürstenden Boden, rieselnde Bäche auf das trockene Land. Ich giesse meinen Geist über deine Nachkommen aus und meinen Segen über deine Kinder. Dann sprossen sie auf wie das Schilfgras, wie Weidenbäume an Wassergräben.

 

Auslegung

Beim Buch Jesaja geht die Bibelwissenschaft nicht von einem einzigen Propheten und Autoren aus, sondern von mehreren. In einem Buch versammelt sind diese Schriften aber deshalb, weil ihnen eine Gemeinsamkeit zugrundeliegt. Im gesamten Buch Jesaja ist davon die Rede, dass Gott sein Volk nicht vergessen hat, auch wenn es harte Zeiten durchmacht. Immer wieder ist die Rede von den Wohltaten, die das Volk Gottes erhalten hat oder in Zukunft erhalten wird.


Durch die biblischen Lesungen in den Gottesdiensten sind uns diejenigen Stellen am besten bekannt, in denen Jesaja bessere Zeiten und den kommenden Messias ankündigt. Sie atmen Gottvertrauen und Zukunftshoffnung; sie sind «Frohworte». Darüber sollten wir aber nicht vergessen, dass die alttestamentlichen Propheten auch harte Kritik an Herrschern oder an den Gläubigen üben, wenn sie sich von Gott abwenden und «fremdgehen». Solche Prophetenworte sind oft hochpolitisch. Und viele dieser prophetischen Worte sind keineswegs in positiver Grundstimmung geschrieben, sondern eher als «Drohworte». Sie wollen einer Forderung Nachdruck verleihen, sich auf den besseren Weg zu begeben. Die heutige Lesestelle gehört zur ersten Sorte, es wird kommendes Heil angekündigt. Sie gehört in den Zusammenhang des babylonischen Exils, als grosse Teile des jüdischen Volkes in der Verbannung lebten. In dieser Zeit ist nicht ein kommender König der grösste Wunsch, sondern die Rückkehr ins Gelobte Land. Das Exil wird mit einem Zustand der Trockenheit in der Wüste verglichen, der erstrebte Zustand ist ein Land, in dem das Wasser ausreichend fliesst, sodass es fruchtbar ist. Es ist mit anderen Worten ein Bild der Erlösung, das der Prophet hier zeichnet.


Interessanterweise ist aber von der Beendigung des Exils nicht direkt die Rede. Das wäre politisch eventuell heikel gewesen. Vielmehr redet der Autor die jüdischen Gläubigen als Volk an. Sie sind auch in der Zerstreuung im Ausland eine Gemeinschaft, die eine starke Verbindung hat. Sie sind Nachkommen Jakobs, des Stammvaters, der mit dem Beinamen «Israel» dem Volk seinen Namen gibt. Der Ehrentitel «Jeschurun» heisst in etwa «der Redliche» und meint das selbe, nämlich die Angehörigen des Gottesvolkes, die sich an den einen wahren Gott halten. Sehen wir das Sprachbild im heutigen Text genauer an, so merken wir, dass mit dem dürstenden Boden und dem trockenen Land nicht geografische Begriffe gemeint sind. Was als göttliche Gabe verheissen wird, ist die Ausgiessung des göttlichen Geistes und seines Segens über die Menschen seiner Wahl. Sie werden aufsprossen wie Schilf oder Weidenbäume am Wasser.


Das bedeutet also, dass die gemeinte Trockenheit ein Problem der menschlichen Seele ist. Menschen können wie eine Wüste sein, ein Ort von reduziertem Leben, von Kargheit und Perspektivlosigkeit. Menschen können Mangelerscheinungen haben, ohne diese so richtig zu realisieren. Menschen können Durst haben nach dem, was das Leben lebenswert macht. Von all dem redet der Prophet in dieser Stelle. Abhilfe schaffen kann der, der auch den Menschen entstehen lässt. Es ist Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde. Dieser Schöpfer ist auch an blühendem Leben in der Schöpfung interessiert. Sein Mittel gegen die Kargheit ist die Kraft des Geistes, den er über den Geschöpfen ausgiesst. Der Geist Gottes ist die Medizin gegen die Verarmung und Austrocknung der menschlichen Seele, die zustandekommt, wenn menschliche Bosheit und natürliche Widrigkeiten den Menschen plagen. Der Geist Gottes ist die Kraft, die Erlösung schaffen kann in beängstigenden und bedrohlichen Lebenssituationen.


Ist es nicht interessant, dass hier der göttliche Geist ganz anders beschrieben wird, als wir es sonst gewöhnt sind? Wir kennen vor allem aus der Kunst die Darstellung als Taube, weil der Geist wie ein Hauch des Windes den Menschen zufliegt, ohne greifbar zu sein. Wir kennen das Bild von Feuer und von Flammen, welche bildhaft die Energie von zündenden Ideen darstellen. Mit dem Bild vom Wasser, das ausgegossen wird und den Durst löscht, wird eine andere Ebene angesprochen. Wasser ist eine absolute Lebensnotwendigkeit. Der Körper überlebt nicht lange, wenn er keine Wasserzufuhr mehr hat. Somit suggeriert das Bild vom Gottesgeist als Wasser etwas, was die Feuerzungen nicht können. Es sagt, dass die Gaben des Geistes eine absolute Lebensnotwendigkeit sind. Es sagt aber auch, dass die menschliche Seele in einen lebensbedrohlichen Mangel geraten kann, wenn sie sich dem Geist Gottes verweigert. Erlösung in diesem Zusammenhang heisst, dass der Mensch sich der Mangelerscheinungen bewusst ist und aktiv dafür sorgt, dass er die Gaben Gottes auch empfangen kann. Die Erwählten sind die Menschen, die den göttlichen Geist aufzunehmen bereit sind. Sie empfangen das Wasser, das den Durst der Seele für immer löscht.


Pfr. Daniel Konrad