Mehr Schutz für Flüchtlinge gefordert

Die Unterzeichnenden: (v. r. n. l.): Herbert Winter, Präsident Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund SIG, Gottfried Locher, Ratspräsident schweizerischen Evangelischer Kirchenbund SEK, Mgr Charles Morerod, Präsident Schweizer Bischofskonferenz SBK, Bischof Dr. Harald Rein, Bischof Christ­katholische Kirche Schweiz CKS, Montassar Ben­Mrad, Präsident der Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz FIDS, Farhad Afshar, Präsident Koordination Islamischer Organisationen Schweiz KIOS. Bild: SEK/ Anja Zurbrügg

Es ist das erste Mal, dass sich Juden, Christen und Muslime gemeinsam zu Flüchtlingsfragen äussern. Die unterzeichnete Erklärung hat somit einmaligen Charakter und bedeutet einen grossen Schritt im interreligiösen Dialog. Unterstützt wird das Projekt vom UNO-Flüchtlingshilfswerk – einem langjährigen Partner engagierter Religionsgemeinschaften weltweit.

Zum fünften Mal organisierte das Institut für Christkatholische Theologie im November die Internationale Konferenz «Interreligious Relations and Ecumenical Issues (IREI)», in diesem Jahr gemeinsam mit dem Schweizerischen Rat der Religionen. Die Tagung startete mit der Lancierung der Interreligiösen Erklärung zu Flüchtlingsfragen.

«Das Gegenüber ist immer ein Mensch»

Dieser Erklärung ging voraus, dass 2012 der Hohe Flüchtlingskommissar (und heutige Generalsekretär) der Vereinten Nationen, António Guterres, auf internationaler Ebene einen interreligiösen Dialog zu «Glaube und Flüchtlingsschutz» eingeführt hatte. Auf Initiative des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK hin griffen die im Schweizerischen Rat der Religionen vertretenen Religionsgemeinschaften diesen Dialog auf und erarbeiteten mit Unterstützung des UNHCR-Büros für die Schweiz und Liechtenstein die Interreligiöse Erklärung zu Flüchtlingsfragen «Gegenüber ist immer ein Mensch». Diese fordert ihre Mitglieder auf, sich für Flüchtlinge zu engagieren. Zudem appellieren die Religionsgemeinschaften an Staat und Politik, Verantwortung für die Bedürfnisse von Flüchtlingen zu übernehmen. Schutz und Aufnahme von Flüchtlingen werden in der Erklärung als gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Aufgabe – mit vielen beteiligten Akteurinnen und Akteuren – dargestellt.

Eindrückliches Zeichen

Erstmals äussern sich in dieser Erklärung Christinnen und Christen, Jüdinnen und Juden sowie Musliminnen und Muslime gemeinsam zu Flüchtlingsfragen und verpflichten sich selbst zu Solidarität und Engagement. Dies ist eine Neuheit in der Schweiz und ein grosser Schritt im Interreligiösen Dialog. Bei der Lancierung äusserten sich die fünf Vertreter der im Schweizerischen Rat der Religionen repräsentierten Religionsgemeinschaften dazu, weshalb sie im Namen ihrer Gemeinschaft diese Erklärung unterzeichnen. Die Religionsvertreter beriefen sich auf ihre jeweiligen ethisch-religiösen Grundlagen und wiesen darauf hin, dass die Sorge für Schwache und Verfolgte ein gemeinsames ethisch-theologisches Anliegen sei – ein eindrückliches Zeichen. Weitere Religionsgemeinschaften (u. a. orthodoxe), die ebenfalls ihren Beitrag zu Flüchtlingsschutz und Integration leisten, haben bereits ihr Interesse angemeldet, die Erklärung ebenfalls zu unterzeichnen.

Fünf Appelle

Die gemeinsame Erklärung enthält fünf Appelle zur schweizerischen Flüchtlingspolitik. Sie betreffen den Schutz vor Ort; faire und effektive Asylverfahren, bei denen der Flüchtlingsbegriff gemäss Genfer Flüchtlingskonvention Anwendung findet; die frühzeitige Integration von Flüchtlingen; eine Rückkehr in Würde für die, die die Kriterien zur Gewährung von Schutz nicht erfüllen; und schliesslich das «Resettlement», die Wiederansiedlung von Flüchtlingen aus Krisengebieten. Während der letztgenannte Appell bei der humanitären Tradition der Schweiz anknüpft und sich v. a. an Staat und Politik richtet, wird bei der Integration ein Beitrag für die Religionsgemeinschaften gesehen, etwa bei nachbarschaftlichen Hilfeleistungen, bei Sprachunterricht und anderen Initiativen, die zu Beheimatung und zum Vertrautwerden der Geflüchteten mit der hiesigen Gesellschaft und ihren Lebensregeln führen.

Eine religionspolitische Herausforderung

Welche Rolle spielen Religionsgemeinschaften in der heutigen Zivilgesellschaft? Dies und auch das Verhältnis von Religion und Staat aus historischer und heutiger Perspektive wurden im weiteren Verlauf der Konferenz in Referaten und Diskussionsrunden thematisiert. Dabei stand der Schweizer Kontext im Vordergrund: Fachleute aus Universität, Politik und Kantonsverwaltungen, die sich in ihrem Arbeitsalltag mit Fragen zum Verhältnis Staat – Religion auseinandersetzen, sowie Vertreterinnen und Vertreter aus den Religionsgemeinschaften analysierten und diskutierten die aktuelle «Religionslandschaft». 

Diese ist von drei Phänomenen geprägt: dem Mitgliederschwund bei den anerkannten Landeskirchen und einer damit verbundenen Distanz zu religiösen Institutionen, der Zunahme christlicher und nichtchristlicher, nicht anerkannter Religionsgemeinschaften und der wachsenden Zahl derer, die sich als konfessionsfrei bezeichnen. Welche religionspolitischen Herausforderungen für die Schweizer Kantone gehen mit diesen sozio-religiösen Realitäten einher? 

Schon jetzt geht der Staat mit der aktuellen Religionspluralität unterschiedlich um: Er kann sich gänzlich von Religionsfragen zurückziehen oder mit einer Landeskirchenpolitik (wie in vielen Kantonen üblich) den Status quo beibehalten. Er kann aber auch auf die neue Religionspluralität reagieren, indem er – wie etwa der Kanton Waadt – ein klares Anerkennungsgesetz formuliert und Religionsgemeinschaften (etwa Muslime, Orthodoxe, Freikirchen) auf dem Weg zur Anerkennung begleitet, oder – wie etwa der Kanton Zürich – pragmatische Kooperationen mit nicht anerkannten Religionsgemeinschaften eingeht (etwa Unterstützung einer Seelsorgeausbildung für muslimische Gemeinschaften).

In Vorträgen wurde auch die Neutralität sowie die Verantwortung des Staates in Religionsfragen thematisiert. Dabei zeigte sich, dass die verschiedenen Schweizer Kantone durchaus unterschiedliche Ansätze entwickelt haben, wie sie mit ihrem Verhältnis zur Religion umgehen. So hat etwa der Kanton Basel Stadt
neuen Religionsgemeinschaften eine symbolische „Kleine Anerkennung“ verliehen, während der Kanton Bern eine religionspolitische Analyse in Auftrag gegeben hat. 

Verantwortlichkeit wird verschieden wahrgenommen

Die Frage nach Verantwortung oder Neutralität des Staates sieht jedoch aus der Sicht von Rechtskundigen, aus dem Blickwinkel anerkannter oder nicht anerkannter Religionsgemeinschaften oder aus der Perspektive von Politikerinnen und Politikern verschieden aus.

Weitere Diskussionspunkte der Konferenz waren etwa der neue Antisemitismus oder inwieweit die Gewährleistung des Religionsfriedens durch die Bundesverfassung auch im heutigen Kontext aktuell sei.

Prof. Dr. Angela Berlis