Die Ukraine und ihre orthodoxe(n) Kirche(n) heute

Eine Zeitreise in zwei Teilen – Teil 1

Zum Verständnis der Situation der orthodoxen Kirche in der Ukraine ist es hilfreich, zunächst einen Blick auf die seit den 1990er Jahren eingetretenen politischen Veränderungen in Russland zu werfen, denn die gegenwärtige kirchliche Situation in der Ukraine ist stark von ihr bestimmt

1. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihre Folgen

Wladimir-Kathedrale in Kiew, Matt Shalvatis auf flickr, CC BY-NC-SA 2.0

Der von Wladimir Putin am 24. Februar 2022 ausgelöste Überfall der «Streitkräfte der Russischen Föderation» auf das Nachbarland Ukraine und die von ihm vorgängig in einer Rede als gerecht und notwendig behaupteten Begründungen für die «speziellen Militäroperationen» – etwa die Abwehr nazistischer Umtriebe und die Verhütung von Völkermord – stehen in geschichtlich näheren und entfernteren Kontexten, in denen auch die orthodoxe Kirche dieser Länder stand und immer noch steht. Das entscheidende Ereignis der jüngeren Vergangenheit ist der Zusammenbruch der Sowjetunion (UdSSR) in den Jahren 1989-1991. Putin hat dies 2005 als «die grösste geopolitische Katas-trophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnet – eine Einschätzung, die man für sein Denken absolut ernst nehmen muss: Er sieht sie im Zusammenhang mit politischen Entwicklungen und Grenzziehungen, die entschlossen zu korrigieren sind. Davon zeugen die kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien (mit der weitgehenden Zerstörung der Hauptstadt Grosny im Jahr 2000), in Georgien (2008) und im ostukrainischen «Donbass» (2014), sowie auch die Annexion der Krim (2014).

An die Stelle des einen sowjetischen Staates trat zunächst die Ende 1991 entstandene GUS, die «Gemeinschaft unabhängiger Staaten». Zu ihr gehörten die flächenmässig riesige Russische Föderation (mit Putin als heutigem Präsidenten, der Ende 1999 auf Boris Jelzin folgte), die osteuropäischen Staaten der Ukraine (bis 2014), Belarus (Weissrussland) und Moldova, sowie acht weitere frühere Sowjetrepubliken im Kaukasus (Armenien, zeitweise auch Georgien, Aserbeidschan) und in Zentralasien (Kasachstan u.a.). Die GUS spielte freilich bald keine Rolle mehr, da ihre Staaten mit der Zeit neuen politischen Orientierungen folgten. Nicht zur GUS zählten die um dieselbe Zeit ebenfalls unabhängig gewordenen baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die seit dem 18 Jh. meist unter russischer Herrschaft standen.

Eine weitere Ablösung von der Sowjetunion betrifft die Länder, die mit ihr durch den 1955 gegründeten sog. Warschauer Pakt, einem «Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand», der ein Gegenstück zum Nordatlantikpakt NATO bildete. Von ihnen gehören heute zur EU (wie auch die baltischen Staaten): Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn (alle seit 2004), Rumänien und Bulgarien (seit 2007); Albanien trat schon 1968 aus dem Warschauer Pakt aus. Mehrere dieser europäischen Länder sind zudem Teil der NATO.

Diese knappe Zusammenstellung territorialer und staatlicher Veränderungen im erwähnten Zeitraum macht vielleicht am einfachsten verständlich, warum das Regime Putin und weitere Kreise, die es bewusst oder fatalistisch unterstützen, im Ende der Sowjetunion eine katastrophale Entwicklung sehen. Dies betrifft nicht etwa das gescheiterte Programm der (kirchenfeindlichen) kommunistischen Ideologie, sondern den früheren Status eines Imperiums, einer Weltmacht, sei es in Gestalt der Sowjetunion oder besser noch des vorangegangenen Zarenreichs seit Peter dem Grossen (17./18. Jh.). Angesichts der wachsenden Attraktivität, die Werte wie Demokratie und Freiheit und damit verbundene zivilgesellschaftliche Äusserungsmöglichkeiten auf Bevölkerungsgruppen der früheren Sowjetunion ausüben, lässt sich leicht nachvollziehen, dass der Verlust von Macht und Grösse als tiefgehende zivilisatorische Kränkung empfunden wird.

2. Die Orthodoxe Kirche in der staatlich unabhängigen Ukraine

Vergleichbare Kategorien von Macht und Grösse, verbunden mit einer Angst vor Verlusten, scheinen nun auch im Spiel zu sein, wenn wir einen Blick darauf werfen, wie die Russische Orthodoxe Kirche, zumal das Moskauer Patriarchat, auf die kirchlichen Auswirkungen der neuen staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine reagiert hat.

Statue von Vladimir dem Grossen im Kreml, Moscow. Foto: marcoverch auf flickr, CC BY 2.0

In den frühen 1990er Jahren kam es in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die – mit einer gewissen inneren Autonomie – seit langem zum Patriarchat Moskau gehörte, zu einer Spaltung. Eine treibende Kraft war der 1990 vom Moskauer Patriarchen Alexij II. zum «Metropoliten von Kiew und der ganzen Ukraine» eingesetzte Filaret (Denysenko), der im Blick auf die neue politische Situation die von ihm geleitete Kirche als vom Moskauer Patriarchat unabhängig erklärte. Er verstand diese als Fortsetzung der im ausgehenden 9. Jh. in Kiew entstandenen und vom Patriarchat Konstantinopel organisierten orthodoxen Kirche. Das Moskauer Patriarchat verurteilte diesen Schritt und erklärte Filaret und seine Anhängerschaft zu Schismatikern und als ausserhalb des Heils stehend. Es setzte für die grosse Anzahl der weiterhin zu Moskau haltenden ukrainischen Bistümer einen neuen Primas, d.h. Erstbischof, ein. Die nunmehr zwei konkurrierenden Gemeinschaften mit gleichem Namen können durch die Hinzufügung «Moskauer Patriarchat» bzw. «Kiewer Patriarchat» unterschieden werden (im Folgenden abgekürzt: UOK-MP und UOK-KP).

Daneben gab es drittens noch die kleine Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK), die 1921 in der kurzen Zeit einer politischen Unabhängigkeit der Ukraine vor ihrer Eingliederung in die Sowjetunion entstanden ist. Sie überlebte in der nordamerikanischen Diaspora und wurde in der Ukraine zuletzt 1990 reaktiviert. Sie war an der Entstehung der UOK-KP im Juni 1992 mitbeteiligt. Auch sie galt für das MP als schismatisch.

Unterschiedlich normierte geschichtliche Rückerinnerungen

Hinter diesen mit den Ortsnamen Kiew und Moskau verbundenen Kontroversen stehen zwei teils identische, teils unterschiedliche geschichtliche Narrative. Der gemeinsame Ausgangspunkt ist die sog. «Taufe Russlands» im Jahr 988, deren Tausendjahrfeier 1988 feierlich begangen wurde. Gemeint ist damit die Hinwendung des Rurikidenfürsten Wladimir des Grossen, der die Tochter des oströmischen Kaisers heiratete, zum Christentum und der von ihm angeordneten Taufe der Bevölkerung Kiews im Dnjepr. Die ersten Metropoliten der sog. «Kiewer Rus’», der alten Bezeichnung für das, welches dem späteren russischen Imperium vorausging, wurden vom Patriarchen von Konstantinopel geweiht. Später verlagerte sich der Schwerpunkt der Kiewer Rus’ in den Norden, zuerst nach Nowgorod, dann nach dem aufstrebenden Moskau, das sich damit staatlich und kirchlich als imperiales Erbe der «Kiewer Rus’» verstand. Diese einsträngige Sicht kommt eindrücklich zum Ausdruck mit der Errichtung der zwei mächtigen Denkmäler des Hl. Wladimir: 1853 in Kiew am Ufer des Dnjepr und vor allem 2016 in Moskau vor den Kremlmauern; die Einweihung nahm Putin mit dem ehemaligen prorussischen ukrainischen Staatspräsidenten Janukowitsch vor. In dieser Rückerinnerung bilden Grossrussen, Weissrussen und die – oft Kleinrussen genannten – Ukrainer ein untrennbares Brudervolk mit einer gemeinsamen religiösen und politischen Vergangenheit.

Es gibt aber für die Ukraine noch eine andere, viel differenziertere historische Rückerinnerung, in der berücksichtigt wird, dass die Vorfahren der heutigen Ukrainer während Jahrhunderten in unterschiedlichen Staaten lebten. Genannt seien nur das Grossfürstentum Litauen, das Königreich Polen, das Kosaken-Hetmanat, das Russische und das Habsburger sowie das Osmanische Reich. 1922 gab es erstmals so etwas wie feste Grenzen der Ukraine, und zwar als Sowjetrepublik. All dies kann hier nicht näher ausgeführt werden, das Weitere betrifft die jüngsten Entwicklungen.

Fortsetzung folgt… zum Teil 2 des Artikels.

Urs von Arx